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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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Opfer der Justiz“ so nicht. Aber wenn er versuchte, mit Lilly darüber zu reden, blockte sie ab. Sie sprach nicht darüber, doch ihr bester Freund wusste, was sie sagen würde: „Ich brauche die Sicherheit, dass er unschuldig ist. Alles andere könnte ich nicht ertragen.“
    Lilly lag in ihrem Kerkerzimmer im Bett und wartete, bis es Morgen wurde. Der Wirt, der sich wunderte, warum sein fröhlicher Gast plötzlich so verstört war, hatte ihr einen altmodischen Wecker geliehen, den sie nicht brauchte. Es war mitten in der Nacht, als sie wieder aufstand und sich an den kleinen Schreibtisch setzte. Sie schob die Prospekte von Wander- und Kajaktouren zur Seite und schrieb.
    12. März 1991
    Etwas in mir hat es immer gewusst. Ich habe diese Stimme, die so leise war, dass ich sie im Getriebe meines lauten Lebens ignorieren konnte, gehasst. Sie hat mir Angst gemacht, weil das Wasser, in das ich sehe, wenn ich ihr zuhöre, tief und dunkel ist. Manchmal war die Stimme so stark, dass meine Haut reagiert hat und mich an meine eigenen Grenzen erinnern wollte. Ich habe sie längst verlassen. Ich spüre Oskars Haft, die ein Teil von mir schon lange erwartet hat, in jeder einzelnen meiner Zellen, so als ob ich mit ihm hinter Gittern säße. Während ich diesen Satz schreibe, merke ich, dass das Wort Zelle plötzlich eine doppelte Bedeutung für mich hat. Das Entsetzen lebt in mir und ernährt sich von meinen schrecklichen Gedanken. Ich werde alles für ihn tun, was ein Mensch für einen anderen tun kann. Aber was ist das schon? Ich kann mit den Anwälten reden, ich kann ihn besuchen und ihm seine Kinder ins Gefängnis bringen.
    Meine Tränen verwischen die Tinte der Füllfeder, die mir mein Vater zum Schulabschluss geschenkt hat. Die Tinte ist dunkelrot. Ich liebe diese Farbe, aber jetzt, in diesem ehemaligen Kerker, sieht sie aus wie Blut. Lea und Niklas. Ich habe ihnen immer gesagt, dass ihr Vater unschuldig ist. Dieser Glaube ist wichtig für mich und ich bin nicht bereit, auf ihn zu verzichten. Ich kann mit dem Gedanken, dass ihr Vater ein Betrüger oder vielleicht sogar noch etwas Schlimmeres sein könnte, nicht leben.
    Ich weiß, dass er nicht getan hat, was ihm vorgeworfen wird. Und dennoch ist das Ungeheuerliche geschehen: Paolo ist dafür verurteilt worden. Ich möchte dieses Urteil vernichten, in alle Stücke zerlegen und mit einem Heer von Anwälten beweisen, dass die Vorwürfe nicht stimmen. Ich kenne ihn, er ist ein Verrückter, aber er ist niemand, der sechs Menschen kaltblütig um die Ecke bringt. Und Oskar kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Ich sehe ihn vor mir. So wie er damals war, in der Zeit unserer ersten Liebe. Mein Schenkel ganz nah an seinem, in diesem Restaurant, in dem er mir sagt: „Und glaube mir, es ist die größte Scheiße, dass dieses Schiff gesunken ist.“
    Der Satz ist mein Stern, dem ich folge. Und wenn er nicht stimmt? Die Stimme gehört meinem Vater. Ich bin dankbar, dass er „diese Schande“, wie er es nennen würde, nicht mehr miter­leben muss. Er liebte die Gesetze und die Gerechtigkeit und glaubte daran. Ihn würde dieses Urteil darin bestärken, dass ich auf einen „Windhund“ hereingefallen bin, der zusätzlich auch noch ein Verbrecher ist. Ich bin froh, dass ihm das erspart bleibt, und gleichzeitig möchte ich nichts anderes, als dass er das kleine Mädchen, das ich einmal vor langer Zeit war, einfach in den Arm nimmt.
    Ralf und vielleicht Rudi, auf seine eigene sperrige Art und Weise, werden von nun an die einzigen Männer sein, an deren Schulter ich mich anlehnen kann. Ich sehne mich nach Oskar. Und gleichzeitig kommt diese kleine, unangenehme Stimme wieder, die mir sagt: „Du konntest dich nie an ihn anlehnen, er hat dich nie getragen.“ Ich verjage die Stimme. Sie macht mich wütend. Ich kann keine Kritik an ihm brauchen. Ich bin seine Hoffnung, sein Schutz, seine Quelle der Kraft.
    Ich spüre die Verantwortung und zwinge mich, ruhiger zu werden. Der Fluss ist dunkel und weiß viele Geheimnisse. Er kennt die Gedanken der Menschen, die hier in diesem Kerker, der jetzt mein Schlafzimmer ist, saßen. Schuldig oder unschuldig. Ich werde mich an sein Ufer setzen und warten, bis der Morgen kommt. Am Wasser finde ich die Wesen. Sie leben in der Natur und hüllen mich ein in meiner Verzweiflung.
    Im Morgengrauen war Lilly nach einer Fahrt quer

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