Lillys Weg
als ich, und sie hat auch auf viel verzichtet.â Sie sagte es wie etwas, das sie schon seit langer Zeit gewöhnt war, so zu sehen. Aber ihre Augen waren traurig, und Lilly spürte, dass sie nicht weiterfragen durfte.
Theo war behindert. Sie hatte es schon damals auf dem Friedhof bemerkt. Sein Wesen war so spontan und kindlich und entsprach nicht ganz seinem Alter. Man sah erst auf den zweiten Blick, dass er am Downsyndrom litt. Sein Vater hatte finanziell gut für ihn gesorgt und ihm die beste Förderung ermöglicht.
Lillys Gewohnheit, wichtige Ereignisse in ihrem Leben durch Schreiben zu verarbeiten, half ihr auch jetzt, und sie hatte sich im Leporello bei Rotraut alle verfügbare Literatur besorgt, um ihren Halbbruder besser zu verstehen.
Ihr wurde klar, dass die seit ihrer Kindheit nie mehr hinterfragte Idee, dass Menschen mit Downsyndrom ihrem Schicksal ausgeliefert waren, so nicht stimmte. Es hing ursächlich davon ab, ob und wie sie gefördert und in die Gesellschaft integriert wurden. Lilly dachte mit Scham an die grausamen Spiele, die sie Hubsi, dem âDorftrottelâ, der einen âWasserkopfâ hatte und das Haus nur mit roten Gummihandschuhen verlieÃ, zugemutet hatten. Singend und tanzend waren sie ihm über die Felder nachgelaufen und hatten im Chor gerufen: âMello Hubsi, Mello Hubsi, wio machscht denn du dinn Käs? Du tuoschtn in a Kübele und druckschtn mit dm Füdele, drum ischt dar Käs so räÃ.â 05 Lilly war nie wohl gewesen bei diesen Hänseleien in der Kinderhorde. Sie hatte mitgemacht, weil sie froh war, dass sie in solchen Augenblicken dazugehörte, und sie war stolz darauf, dass sie den schweren Dialekt nach kurzer Zeit schon so gut beherrschte, dass sie mitsingen konnte.
Bei Vaters Testamentseröffnung hatte Lilly Theo und seine Mutter wieder gesehen und sich beim anschlieÃenden Brunch im Café Bräunerhof langsam mit der Idee angefreundet, dass dieser kleine Junge und sie verwandt waren.
Die Wende kam, als Margot sie ein halbes Jahr später anrief: âIch habe mir das Bein gebrochen und kann niemand anderen erreichen. Könnten Sie bitte Theo von der Schule für speziell begabte Kinder abholen und mit ihm spielen, bis ich seine Betreuerin erreiche?â
Lilly wusste nicht, wie man mit einem Kind spielt, das sich in ihrer Wohnung verängstigt in einer Ecke versteckte, weil es seine gewohnten Rituale und seine wichtigste Bezugsperson vermisste. Zuerst versuchte sie, ihn mit Schokolade zu locken, doch als das nichts half, legte sie eine Schallplatte auf und fing an zu tanzen. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Menschen mit Behinderungen auf Musik gut reagierten. Es dauerte eine Weile, dann kam Theo zögerlich aus seiner Ecke heraus und fing an, sich sanft im Rhythmus der Musik zu bewegen.
Seit diesem Nachmittag stand Lilly jeden zweiten Mittwoch vor Theos Schule und freute sich, wenn er ihr strahlend entgegenlief und sich in ihre Arme warf. Er wurde für sie zum Lehrmeister in der Kunst, den Augenblick zu genieÃen, und für bedingungslose Liebe. Er war so zärtlich, so weich und warm und vertraute ihr blind. Wenn er seine kleine Nase an ihrer rieb, glücklich lächelte und den Kopf an ihre Brust lehnte, spürte sie sein groÃes Herz und lernte, ihres zu öffnen.
Ralf sah Lilly dabei zu, wie sie auf ihrem Bleistift kaute und, die FüÃe auf ihrem Schreibtisch, vor sich hin brütete. Sie trug eines ihrer Schutzkleider, wie sie es nannte. Er konnte ihre Verfassung nicht nur an ihrem Gesicht, sondern auch an ihrer Garderobe ablesen. Das war schon auf der Uni so gewesen. Sie kümmerte sich nicht besonders darum, was gerade in Mode war, auch wenn sie sich immer sehr stilsicher und individuell kleidete. Lilly war wichtig, ihre zweite Haut ihren Stimmungen anzupassen. Schutzkleider waren immer lang und im Sommer vorzugsweise aus weiÃem schweren Leinen. Im Winter trug sie dann etwas körpernähere Varianten aus kuscheliger Angorawolle und dicke Strümpfe dazu. Sie erinnerte Ralf heute an einen Vogel, der aus dem Nest gefallen war. Ein bisschen sah sie aus wie damals, als sie versucht hatte, nach dem Tod ihres Vaters die neue Situation zu verkraften.
Lilly sah auf und sagte: âWas hältst du davon, wenn wir wieder einmal eine Geschichte über die Liebe machen. Wenn wir beschreiben, was passiert, wenn zwei Menschen so plötzlich aus dem Nichts von diesem Virus befallen
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