Lillys Weg
Frauen umarmten einander. Vorsichtig, so als ob ihre Körper die Geste einem Prüfverfahren auf Echtheit unterziehen müssten. Dann entspannten sie sich, und Lilly bemerkte an ihren zuckenden Schultern, dass sie weinten.
Der kleine Junge, für einen Augenblick von seiner Mutter getrennt, drängte sich, als wieder Frieden herrschte, wie ein ängstliches Tier, das Schutz bei der Herde sucht, zwischen sie. Nach einer Weile löste sich ihre Mutter von der fremden Frau und winkte Lilly mit der schwarz behandschuhten Hand: âIch möchte dir jemanden vorstellen.â
Als sie am späteren Nachmittag mit ihrer Mutter in Vaters Wohnung, in der noch sein ganzes Wesen atmete, endlich alleine war, rollte sie sich in seinem alten Lieblingsledersessel, der nach Tabak und seinem Aftershave roch, wie eine Katze zusammen. Sie fühlte sich so klein und so verraten, und es dauerte eine Weile, bis Lilly aufhören konnte zu weinen. Ihr unantastbarer Papi war tot und hatte sich nicht nur mit einem Herzinfarkt ohne Abschied aus ihrem Leben geschlichen, sondern ihr auch noch eine Zweitfrau und einen Halbbruder hinterlassen.
Sie sah auf das groÃe, gerahmte Bild, das Mutter aus Mellau mitgebracht und auf den Couchtisch gestellt hatte. Vater in einer ungewöhnlichen Aufnahme. Er saÃ, mit Bergschuhen, roten Strümpfen und einer flaschengrünen Kniehose, aus der nachlässig sein rotgrau kariertes Hemd hing, auf dem Gipfel der Kanisfluh. In einer Hand hielt er sein Fernglas, mit der anderen Asta, die alte Hündin ihrer GroÃmutter.
Er sah sehr glücklich und schön aus auf diesem Foto. Die Haare dicht, blond-grau meliert, die grauen Augen durch breiÂÂte, schön geschwungene, helle Augenbrauen betont, die Nase Âschmal, mit einem leichten Knick, der ihm etwas Verwegenes gab. Die vollen, weichen Lippen zu einem Lächeln nach oben gebogen.
Lilly verstand plötzlich, dass sein Lebenskorsett viel zu eng gewesen war. Niemand hatte ihn gefragt, ob er Schirmfabrikant werden wollte. Es war klar, dass er das Familienunternehmen, das sein UrgroÃvater gegründet hatte, übernehmen musste. Er wurde ein Anzugmann â so hatten ihn die Kinder in Mellau genannt â und sie hatte ihn nur selten anders erlebt. Seine Anzüge waren von Frau Bollmann, die auch ihre Kleidchen genäht hatte, aus feinsten englischen Stoffen in unterschiedlichen Grautönen maÃgeschneidert worden. Als Lilly noch ein Kind war, hatte sich für sie aus den Schattierungen ein Bewertungssystem erschlossen. Helles Grau bedeutete, dass es ein guter Tag war, um ihm eine Erlaubnis oder einen Schilling abzubetteln. Mittleres Grau hieÃ, dass sie sich ohne Gefahr auf seinen Schoà setzten durfte und er ihr mit groÃer Wahrscheinlichkeit zuhören würde. Schwierig waren die fast schwarzen Anzüge. Entweder hatte er dann etwas ganz Wichtiges vor und durfte auf keinen Fall gestört werden, oder er war schlecht gelaunt, und es war besser, ihm aus dem Weg zu gehen.
Lilly spürte ein starkes Mitgefühl, etwas, das ihr im Zusammenhang mit ihrem Vater noch nie in den Sinn gekommen war. Bisher hatte sie sich nur mit dem Unglück ihrer Mutter identifiziert. Aber was war mit ihm? Was hatte er für ein Leben geführt? Seine Tochter hatte sich darüber noch nie Gedanken gemacht. Ein Satz tauchte aus ihrer Erinnerung auf und gewann an Bedeutung: âIch wäre so gern Journalist geworden, ich habe schon in der Schule immer die besten Aufsätze der Klasse geschrieben.â Stattdessen war er in die Schuhe seines Vaters getreten, hatte eine Frau aus einer unüberbrückbaren, fremden Welt geheiratet und sich mit Margot, von deren Existenz sie erst heute erfahren hatte, getröstet.
Mutter seufzte, als könnte sie Lillys Gedanken lesen: âWir hätten es dir sagen sollen, aber es war so schwer. Zuerst warst du so jung und unbeschwert, und dann hat er sich vor deinem Urteil gefürchtet. Dein Vater hatte Angst, deine Liebe zu verlieren.â
âAber was ist mit dir, Mama? Warum hast du akzeptiert, dass er dich über Jahre hinweg mit einer anderen betrogen hat?â
âIch habe ihn geliebt, und er war so einsam ohne mich in Wien. Männer sind anders als Frauen. Sie brauchen jemanden. Und nach ein paar Jahren war aus unserer Leidenschaft ein kleines, warmes Feuer geworden. Ich weiÃ, dass ich seine groÃe Liebe war. Margot ist eine gute Frau, sie hat mehr gelitten
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