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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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dämmrig geworden, und die meisten Menschen hasteten an ihr vorbei. Die einen, weil sie von der Arbeit kamen, die anderen, weil sie noch rasch etwas einkaufen wollten. Dazwischen flanierten die Touristen mit ihren Reiseführern, machten begeistert Platz und zückten ihre Fotoapparate, wenn ein Fiaker auf dem Weg zur Hofburg vorüber fuhr.
    Lilly überlegte kurz, was sie mit dem angebrochenen frühen Abend machen sollte, und entschied sich dafür, zu Fuß in den neunten Bezirk zu spazieren. Sie hatte erst ein paar Meter zurückgelegt, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte und erschrocken aufschrie. „Tut mir leid, ich wollte Sie nicht überfallen, ich möchte Sie einfach nur ein Stück begleiten.“ Oskar strahlte sie an, und Lilly merkte, dass sie sich freute. Sie fühlte sich mit diesem Fremden seltsam wohl, und als sie durch den Volksgarten an den Rosenbeeten vorbei zum Ausgang Richtung Burgtheater gingen, war klar, dass der Abend zu jung war, um ihn hier zu beenden.
    Das Café Landtmann lag einen Steinwurf weit entfernt und war brechend voll. Lilly liebte die roten Samtlogen, in denen man sich ungestört unterhalten konnte, und wollte enttäuscht wieder gehen. Oskar hob seine rechte Hand, mit der linken berührte er sie sanft an der Schulter und hinderte sie daran, das Traditionscafé wieder zu verlassen. Der Oberkellner kam sofort auf sie zu und sagte: „Wir haben natürlich einen Platz für Sie, Herr Baldini.“ Er führte sie zu einer der besten Logen direkt am Fenster und nahm das Reserviertschild weg.
    Die nächsten Stunden vergingen in einer Mischung aus Informationsflut und Gefühl. Sie waren noch immer beim Sie, aber dieses Sie war nur ein kleiner, köstlicher Zaun, der ihrer nonverbalen Erotik einen prickelnden Rahmen gab. Gleichzeitig war es so, als hätte Lilly Oskar schon viele Jahre gekannt oder vielleicht sogar, als hätte sie schon viele Jahre auf ihn gewartet.
    Oskar hatte früher in Salzburg gelebt, wo seine Mutter, die aus Rosenheim kam und Deutsche war, in einem kleinen Haus residierte, das ihm gehörte. Lilly wunderte sich über das Wort „residiert“, es klang so, als ob er mindestens über eine Fürstin sprach. In Wien lebte er in seiner Dienstwohnung, einem Zweizimmerappartement, das ihm Paolo zur Verfügung gestellt hatte. Im Augenblick teilte er es mit der Frau eines bekannten Zahnarztes, die von zu Hause ausgezogen war. Die Beziehung war eigentlich schon wieder zu Ende, weil – wie Oskar es nannte – „überhaupt nicht alltagskompatibel“. Seine Exfreundin war nur noch da, weil die Gespräche mit ihrem Mann über eine Rückkehr in die gemeinsame Wohnung einige Diplomatie erforderten. Seinen Vater hatte er nur einmal gesehen. Der hatte seine Mutter zwar noch vor der Geburt von Oskar geheiratet, „weil es sich so gehörte“, sich dann aber nie mehr um seinen Sohn, der ein „Berghüttenunfall“ war, gekümmert. Nach seinem Studium in Maschinenbau hatte Oskar in England und in Amerika gelebt und war seit ein paar Jahren Paolos Mitarbeiter bei dessen Anlagengeschäften. Er konnte fließend Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch und wurde häufig im Ausland eingesetzt. Als Lilly ihn nach seiner Berufsbezeichnung fragte, zögerte er einen Augenblick und sagte dann: „Wohl am ehesten Industrial Consultant.“
    Es war schon Mitternacht, als sie gemeinsam das Lokal verließen und in der atemberaubenden historischen Kulisse zwischen Burgtheater und Rathaus am Ring standen. Und jetzt?
    Oskar sagte nichts und sah sie einfach an. Weder fragte er sie nach ihrer Telefonnummer noch gab er ihr seine. Er hätte sie in den Arm nehmen und küssen können. Lilly hätte sich nicht gewehrt. Für eine Sekunde tauchte Paolo auf. Die beiden Männer waren grundverschieden und doch gab es ein paar frappierende Ähnlichkeiten.
    Als ein Taxi vorbeifuhr, hielt Oskar es mit einer eleganten Geste an. Sie stiegen wortlos ein. Der Taxifahrer sah in den Rückspiegel und fragte routiniert: „Wo soll’s hingehen?“ Oskar schwieg. Lilly schwieg. Der Fahrer räusperte sich und nahm ein Bonbon aus einer Tüte, die auf dem Nebensitz lag. Er packte es geräuschvoll aus und sah dabei unverwandt in den Rückspiegel. Er trug eine Schirmmütze aus grauem Tuch, schien sich über nichts mehr zu wundern und gab sich auch nicht die

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