Lillys Weg
Minuten nach zwölf Uhr mittags geboren worden und fuhr viel zu schnell auf der Autobahn, damit sie diesen â für seine Mutter so wichtigen Augenblick â nicht verpassten. Als sie dann eine Minute vorher ins Haus stürmten, ihr Sohn mit einer Flasche gekühltem Champagner in der Hand, sah sie auf ihre kleine, kostbare Armbanduhr und sagte bissig: âDas wäre vor deiner Ehe nicht vorgekommen.â
Clarissa trug ein Hörgerät, das aber offenbar schlecht eingestellt war, und beschwerte sich bei Tisch überlaut bei ihrem Ossilein: âJetzt sprich doch nicht so leise mit ihr, ich verstehe nichts.â Lilly hielt das für einen Trick, damit die ohnehin geringe Aufmerksamkeit, die für sie noch übrig blieb, zerstückelt wurde.
Als sie sich dann endlich in sein Schlafzimmer mit dem groÃen französischen Bett zurückziehen konnten, war ihr zärtlich geflüstertes âon fait lâamour?â, auf das Oskar sonst immer reagierte, umsonst. âIch kann in ihrem Haus nicht.â Auf dem Rückweg nach Wien sagte Lilly und bemühte sich um einen normalen Ton: âEs ist auch dein Haus, du darfst nicht erlauben, dass sie sich so benimmt.â Sie kam nicht auf die Idee zu sagen, dass es das letzte Mal war, dass seine Mutter sie so schlecht behandelt hatte. Sie würde von nun an nicht mehr mitkommen, wenn sich das nicht sofort änderte.
Psychologie Morgen litt nicht unter dem neuen Status der Herausgeberin und Journalistin. Wenn Oskar verreist war, und das war öfter, als Lilly lieb war, führten Ralf und sie ihr altes Leben weiter, das der Zeitung und einem intensiven Austausch gewidmet war. Lilly war ausgeglichen und glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Die Stunden, Tage und Monate mit Oskar reihten sich wie kostbare Perlen aneinander. Sie hatte alles. Einen Mann, den sie liebte, und einen Beruf, der sie erfüllte.
âIhr Frauen von heute seid die erste Generation mit diesen vielen Möglichkeitenâ, sagte ihre Mutter neidlos. Für sie war Bildung etwas, das sie als Erwachsene nachholen musste. In ihrer Kindheit blieben Mädchen zu Hause und halfen im Haushalt, im Stall und auf der Alm. Niemand wäre auf die Idee gekommen, das magere Familieneinkommen für eine Ausbildung zu verschwenden. Erst als sie dann eine über das Tal hinaus geschätzte Heilkundige wurde, verstand Lillys Mutter, dass das Wissen, das sie von ihrer Mutter und ihrer GroÃmutter âgeerbtâ hatte, ihre spezielle Art von Bildung war, die ihr keine Schule hätte vermitteln können.
Oskar war gerne unterwegs. Und Lilly, die ihre Bregenzerwälder Nomadin bisher nur mit Geschäftsreisen zufriedengestellt hatte, lernte mit ihm andere Kulturen kennen. Sie flogen nach Mexiko, saÃen auf dem Dorfplatz von San Cristóbal de las Casas und sahen den bunt gekleideten Einheimischen beim Tauschhandel zu. Sie wanderten auf alten Eselspfaden durch Peru und saÃen in der untergehenden Sonne, wenn die meisten Touristen schon wieder in ihre Hotels zurückgekehrt waren, in den Ruinen von Machu Picchu. Sie stiegen in den âTren de la muerteâ, den Todeszug, und durchquerten die wilde Landschaft von Bolivien. Und als sie in Rio, nach dem obligaten Besuch auf dem Zuckerhut, wieder zum Flughafen fuhren, war Lilly die glücklichste Frau der Welt.
Manchmal überraschte Oskar sie auch mit kleinen Reisen. âLass uns nach Positano fahrenâ, sagte er zum Beispiel, und sie packte ein paar leichte Sommerkleider ein. Dann chauffierte er sie in seinem silbergrauen Mercedes mit den schwarzen LederÂsitzen durch Italien und zeigte ihr sein Lieblingshotel, wo sie vom Bett aus das Meer sehen konnten.
Der Abend, an dem sich für Lilly alles änderte, war einer von vielen. Sie saà in einer Runde mit Paolo und Oskar, und alles schien seinen gewohnten Lauf zu nehmen. Es wurde gegessen, es wurde getrunken, strategisch, klug und manchmal banal geredet, und Oskar drückte unterm Tisch seinen Schenkel an ihr Bein. Es war sein Signal, dass sie zwar noch bleiben mussten, aber er Âeigentlich schon lieber mit ihr zu Hause wäre, um sie zu lieben. Die Männer sprachen über ein Schiff, und dass die Versicherung sich nun endgültig entschieden habe, nicht zu bezahlen, und einen Strafprozess anstreben wolle.
âWas für ein Schiff?â, fragte Lilly.
âDas erkläre ich dir später, die Esmeralda ist im Indischen Ozean
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