Lillys Weg
hatten ihre verlorene Tochter nach ihrer Rückkehr aus Wien nie mehr wirklich aufgenommen. Zu fremd war sie geworden. Zu reich der Ehemann im grauen Anzug, der nur selten vorbeikam. Zu erfolgreich war sie als Heilkundige, von der es hieÃ, dass sie durch Handauflegen Wunder bewirken konnte. Die Menschen kamen aus dem ganzen Land, und gleichzeitig war sie in ihrem erfüllten, geschäftigen Leben einsam. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes nie mehr einen Mann an ihrer Seite gewollt, obwohl es immer Angebote gegeben hatte: âDas ist vorbei. Ich will frei sein.â Sie sagte nicht: âWeil ich nie mehr so leiden willâ, aber ihre Tochter hörte es.
Lilly hatte âdie Gabeâ, wie Oma es genannt hatte, nicht geerbt. Sie spürte auch kein Bedürfnis, in diese Welten tiefer einzutauchen. Die komplexe Psyche der Menschen reichte ihr als Forschungsgebiet, und an Naturwesen glaubte sie sowieso schon seit ihrer Kindheit.
Der erste Weg, wenn das Kässpätzleritual mit Mama beendet war, führte Lilly zu ihrer ältesten Freundin Ella in Mellau. Die beiden Frauen wanderten dann aufs VorsäÃ, ob Sommer oder Winter, ob Tag oder Nacht. Es war ein Ritual, mit dem sie ihre Welten wieder verbanden. Zuerst erzählte die eine, dann die andere. In vollständiger Offenheit. Es gab keine Geheimnisse, die sie voneinander trennten. Hier, in dieser fast unberührten Natur, hatten sie als Kinder mit Lillys Oma und dem Vieh zur Ferienzeit und am Wochenende gelebt. Wenn ihre Mutter nach der Arbeit zu Fuà zum späten Mittagessen auf den Berg gewandert kam, dann waren ihr die beiden Mädchen oft schon entgegengelaufen. Im August waren sie dann auf die Alm weitergezogen, damit die abgegrasten Weiden auf dem Vorsäà sich erholen konnten. Die Eltern von Ella, die damals noch Elli hieà und in deren Taufschein Aurelia stand, waren froh darüber, dass von ihren sechs Kindern wenigstens eines woanders gut aufgehoben war.
Am schönsten war der Weg aufs VorsäÃ, wenn die Dunkelheit schon hereingebrochen war. Sie hatten immer eine Taschenlampe dabei, aber ihre FüÃe fanden die Wege ihrer Kindheit wie von alleine. Und wenn sie manchmal stehen blieben und in den klaren Sternenhimmel schauten, dann fragte Lilly sich, warum sie nicht hiergeblieben war. âWeil du einen anderen Auftrag hast in diesem Lebenâ, pflegte Ella dann zu sagen. âEs ist wichtig, dass du schreibst.â Der Name Aurelia bedeutet âDie Goldeneâ, und Ella hieà die âschöne, feenhafte Frauâ oder âGott sei mein Lichtâ und entsprach ihrer Bestimmung als Schamanin.
Die beiden hatten sich am ersten Tag in der Volksschule kennengelernt. Ella war die Tochter des Försters und hatte, als Lilly sich schüchtern in die letzte Bank gesetzt hatte, ihren Ranzen neben den ihren gestellt und der âWianarschmelgâ 06 ihre kleine braune Hand entgegengestreckt. Später hatte sie Pharmakologie studiert und war dann für einige Zeit bei Lillys Mutter in die Lehre gegangen und hatte alle Heilkräuter der Berge sammeln und verarbeiten gelernt. Ihr Ruf als wissenschaftlich fundierte Heilkundige ging weit über den âWaldâ hinaus. Ihrer engen Verbindung taten die unterschiedlichen Welten, in denen sie lebten, keinen Abbruch. Wenn Ella sie mit ihrem alten Jeep in Dornbirn am Bahnhof abholte, dann stürmten sie aufeinander zu und lachten und weinten vor Freude. Sie war Lillys Mellauer Schwester.
Doch heute halfen alle gewohnten Rituale nichts. Weder die Kässpätzle noch die Wanderung aufs VorsäÃ, das in der Märzsonne lag. Lilly war in den Bregenzerwald geflüchtet, weil sie die Situation mit Oskar so belastete. Er war in eine Sache verstrickt, die ihr Angst machte und auf deren Ausgang sie keinen Einfluss hatte. Sie wollte ihm glauben, wenn er ihr immer wieder versicherte, dass alles gut ausgehen würde. Sie verfolgte die BerichterÂstattung in den Medien kaum, aber sie sah dabei zu, wie Paolos Stern zu sinken begann. Er, in dessen Nähe sich so viele gedrängt hatten, war plötzlich allein auf weiter Flur. Die Politiker, die er um Hilfe bat, nahmen Abstand und wollten âdie Justiz nicht beeinflussenâ. Jetzt nannte die Wiener Gesellschaft ihn plötzlich einen Parvenü, der â so wurde gemunkelt â früher ein SchweineÂhirte gewesen sei. Lilly wusste es besser. Paolo Vicente hieà in Wirklichkeit Pawel,
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