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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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hatten ihre verlorene Tochter nach ihrer Rückkehr aus Wien nie mehr wirklich aufgenommen. Zu fremd war sie geworden. Zu reich der Ehemann im grauen Anzug, der nur selten vorbeikam. Zu erfolgreich war sie als Heilkundige, von der es hieß, dass sie durch Handauflegen Wunder bewirken konnte. Die Menschen kamen aus dem ganzen Land, und gleichzeitig war sie in ihrem erfüllten, geschäftigen Leben einsam. Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes nie mehr einen Mann an ihrer Seite gewollt, obwohl es immer Angebote gegeben hatte: „Das ist vorbei. Ich will frei sein.“ Sie sagte nicht: „Weil ich nie mehr so leiden will“, aber ihre Tochter hörte es.
    Lilly hatte „die Gabe“, wie Oma es genannt hatte, nicht geerbt. Sie spürte auch kein Bedürfnis, in diese Welten tiefer einzutauchen. Die komplexe Psyche der Menschen reichte ihr als Forschungsgebiet, und an Naturwesen glaubte sie sowieso schon seit ihrer Kindheit.
    Der erste Weg, wenn das Kässpätzleritual mit Mama beendet war, führte Lilly zu ihrer ältesten Freundin Ella in Mellau. Die beiden Frauen wanderten dann aufs Vorsäß, ob Sommer oder Winter, ob Tag oder Nacht. Es war ein Ritual, mit dem sie ihre Welten wieder verbanden. Zuerst erzählte die eine, dann die andere. In vollständiger Offenheit. Es gab keine Geheimnisse, die sie voneinander trennten. Hier, in dieser fast unberührten Natur, hatten sie als Kinder mit Lillys Oma und dem Vieh zur Ferienzeit und am Wochenende gelebt. Wenn ihre Mutter nach der Arbeit zu Fuß zum späten Mittagessen auf den Berg gewandert kam, dann waren ihr die beiden Mädchen oft schon entgegengelaufen. Im August waren sie dann auf die Alm weitergezogen, damit die abgegrasten Weiden auf dem Vorsäß sich erholen konnten. Die Eltern von Ella, die damals noch Elli hieß und in deren Taufschein Aurelia stand, waren froh darüber, dass von ihren sechs Kindern wenigstens eines woanders gut aufgehoben war.
    Am schönsten war der Weg aufs Vorsäß, wenn die Dunkelheit schon hereingebrochen war. Sie hatten immer eine Taschenlampe dabei, aber ihre Füße fanden die Wege ihrer Kindheit wie von alleine. Und wenn sie manchmal stehen blieben und in den klaren Sternenhimmel schauten, dann fragte Lilly sich, warum sie nicht hiergeblieben war. „Weil du einen anderen Auftrag hast in diesem Leben“, pflegte Ella dann zu sagen. „Es ist wichtig, dass du schreibst.“ Der Name Aurelia bedeutet „Die Goldene“, und Ella hieß die „schöne, feenhafte Frau“ oder „Gott sei mein Licht“ und entsprach ihrer Bestimmung als Schamanin.
    Die beiden hatten sich am ersten Tag in der Volksschule kennengelernt. Ella war die Tochter des Försters und hatte, als Lilly sich schüchtern in die letzte Bank gesetzt hatte, ihren Ranzen neben den ihren gestellt und der „Wianarschmelg“ 06 ihre kleine braune Hand entgegengestreckt. Später hatte sie Pharmakologie studiert und war dann für einige Zeit bei Lillys Mutter in die Lehre gegangen und hatte alle Heilkräuter der Berge sammeln und verarbeiten gelernt. Ihr Ruf als wissenschaftlich fundierte Heilkundige ging weit über den „Wald“ hinaus. Ihrer engen Verbindung taten die unterschiedlichen Welten, in denen sie lebten, keinen Abbruch. Wenn Ella sie mit ihrem alten Jeep in Dornbirn am Bahnhof abholte, dann stürmten sie aufeinander zu und lachten und weinten vor Freude. Sie war Lillys Mellauer Schwester.
    Doch heute halfen alle gewohnten Rituale nichts. Weder die Kässpätzle noch die Wanderung aufs Vorsäß, das in der Märzsonne lag. Lilly war in den Bregenzerwald geflüchtet, weil sie die Situation mit Oskar so belastete. Er war in eine Sache verstrickt, die ihr Angst machte und auf deren Ausgang sie keinen Einfluss hatte. Sie wollte ihm glauben, wenn er ihr immer wieder versicherte, dass alles gut ausgehen würde. Sie verfolgte die Berichter­stattung in den Medien kaum, aber sie sah dabei zu, wie Paolos Stern zu sinken begann. Er, in dessen Nähe sich so viele gedrängt hatten, war plötzlich allein auf weiter Flur. Die Politiker, die er um Hilfe bat, nahmen Abstand und wollten „die Justiz nicht beeinflussen“. Jetzt nannte die Wiener Gesellschaft ihn plötzlich einen Parvenü, der – so wurde gemunkelt – früher ein Schweine­hirte gewesen sei. Lilly wusste es besser. Paolo Vicente hieß in Wirklichkeit Pawel,

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