Lillys Weg
der Redaktion. Lilly, die sich für Politik nur am Rande interessierte, überlieà es ihrem Partner, die Morgenzeitungen nach wichtigen Nachrichten zu durchforsten. Sie kümmerte sich dafür intensiv um die sogenannten âPsychoseitenâ und hatte neben den groÃen ausländischen Zeitungen eine Reihe von Magazinen mit diesem Schwerpunkt abonniert. Sie informierten einander über das Wichtigste, und Ralf hatte bisher bewusst die Schlagzeilen über die Esmeralda von ihr ferngehalten, und sie hatte nicht gefragt.
Lilly setzte sich und las zwei Stunden lang, ohne ein Wort zu sagen. Die Medien hatten sich alle gegen Paolo und damit auch gegen Oskar gewendet. Es gab niemanden, der jetzt noch in Zweifel zog, dass sie keine saubere Weste hatten: âDie Justiz schlägt endlich zu. Paolo Vicente und Oskar Baldini wegen Verdunkelungsgefahr in U-Haft.â
Am nächsten Tag blieb Lilly mit den Kindern zu Hause und bestellte Tilde für den Nachmittag, damit sie Oskar wieder besuchen konnte. Als Sybille ohne Ankündigung an der Tür läutete und sie in die Arme nahm, war sie gerührt. Ihre Freunde waren an ihrer Seite. Das tat gut. Später, als sie bei Kaffee und Kuchen im Wohnzimmer saÃen und Lea beim Spielen zusahen, zog Sybille einen Brief aus ihrer Handtasche: âKannst du den Oskar bringen, ich möchte ihn aufmuntern, wenn ich ihn schon nicht besuchen darf.â
Der Brief war zugeklebt, und Lilly, die wusste, dass Post zensiert wurde und nur offen abgegeben werden durfte, machte ihre Freundin darauf aufmerksam. Sybille zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, nahm dann den Brief und riss ihn wieder auf: âDu kannst ihn lesen, dann wirst du sehen, dass nichts Verdächtiges drinsteht.â
Lilly nahm den Brief mit ins Untersuchungsgefängnis, um ihn dem zuständigen Wachebeamten auszuhändigen. Sie hatte nicht vor, ihn zu lesen, das Briefgeheimnis war ihr heilig. Man bat sie, im Besucherzimmer Platz zu nehmen. Sie wartete und wartete. Niemand kam. Auch nicht, um ihr zu sagen, warum es so lange dauerte, bis sie ihren Mann sehen durfte. Sie brauchte Trost. Sie nahm den Brief, den sie in der Hand hielt, aus seinem Umschlag und begann zu lesen:
âMein liebster Oskar, ich denke Tag und Nacht an dich und bin im Herzen bei dir. Ich kann nicht schlafen, wenn ich daran denke, was für ein Unrecht dir gerade geschieht. Ich glaube an dich und werde dich mit meiner ganzen Kraft unterstützen.â
Sie hielt inne und las diese erste Passage noch einmal. Sie Â
hatte nicht gewusst, dass Sybille so sensibel war, dass Oskars ÂSchicksal auch sie um ihren Schlaf brachte. Sie waren wirklich enge Freunde!
Der Rest des Briefes hielt sich mit Schilderungen über den Alltag auf und sollte wohl dazu dienen, den Gefangenen von seinem Kummer abzulenken.
In den nächsten Tagen gab es täglich Besprechungen mit den Anwälten, und Lilly sah zum ersten Mal nach ihrem Ausflug zum Semmering Kristina wieder. Sie war nach auÃen beherrscht und souverän und so schön wie damals, aber ihre Augen verrieten die Panik, die Lilly in sich selber spürte. Die beiden Frauen umarmten einander als Verbündete, es bedurfte keiner Worte. Es war klar, dass sie die Situation gemeinsam meistern wollten.
Lea und Niklas gingen seit ein paar Monaten in eine Kindergruppe, die Lilly mit ein paar anderen Frauen gegründet hatte. Sie war in einem grünen Hinterhof in der Grünentorgasse untergebracht, einen Steinwurf von der Servitengasse entfernt. Tilde war eine der beiden Betreuerinnen, und für die Kinder hatte sich nur geändert, dass sie nun noch mehr kleine Freunde hatten.
Einige Tage, nachdem ihr Vater verhaftet worden war, kam Lea mit Tilde verstört aus der Kindergruppe nach Hause. Sie wollte zuerst nicht sagen, was sie bedrückte, aber als ihre Mutter nicht locker lieÃ, heulte sie los: âDer Günter hat gesagt, dass mein Papa nicht mehr kommt, weil er in einem Käfig eingesperrt ist wie die Affen im Zoo Schönbrunn.â Lilly nahm ihre Tochter in die Arme und wiegte sie so lange, bis ihre Tränen trockneten: âEr kommt wieder, ich verspreche es dir.â Sie sagte es im Brustton der Ãberzeugung und im Wissen, dass Oskar unschuldig war.
Es dauerte vierzehn Tage, bis sie ihr Versprechen halten konnte. Der Tag der Freilassung der beiden Männer, weil âdie Suppeâ, wie der Staatsanwalt sagte, âzu dünn
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