Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
Vom Netzwerk:
Weckruf gewesen, aus dem „Mamaland“, wie Ralf es nannte, wieder aufzutauchen. Und gleichzeitig war nichts wirklich gut geworden. Sie sprach häufig mit Sybille darüber, die ihr, während sie ihr die Augenbrauen zupfte, empfahl, Oskars Aufmerksamkeit mehr einzufordern. Aber wie konnte man von einem Mann Sex verlangen, der nicht wirklich interessiert war?
    Sybille war in dieser schwierigen Zeit eine große Hilfe für Lilly. Außerdem war sie verliebt und daher bester Laune. Letzte Woche, als sie eine neue, sehr teure Cartier-Uhr am Handgelenk trug, sagte sie: „Die hat mir mein Liebster geschenkt.“ Einen Namen wollte sie nicht nennen, weil er verheiratet war. Lilly lächelte.
    Sie erinnerte sich gern an die Zeiten zurück, als sie mit ihrer Freundin im dritten Bezirk in einem etwas heruntergekommenen Altbau in der Nähe des Rochusmarktes gelebt hatte. Sie hatten ein offenes Haus geführt, es gab ständig Anlässe für eine kleine Party. Der Beginn einer neuen Liebesaffäre oder das Ende einer solchen musste gefeiert, tiefschürfende Erkenntnisse ihrer bunt gemischten Gästeschar bis tief in die Nacht hinein diskutiert werden. Jeder, der zu Besuch kam, konnte ein Glas Wein, eine gute Pasta, Spaß, Mitgefühl oder Trost erwarten.
    Es war fast Mitternacht, als Lilly am Westbahnhof ankam. Sie nahm sich ein Taxi in die Servitengasse und freute sich darauf, zu Oskar ins warme Bett zu kriechen.
    Als sie die Tür zur Wohnung aufschloss und im Vorzimmer leise ihre Schuhe auszog, wunderte sie sich, dass sie den Atem ihrer Familie nicht spürte. Lilly war sich sicher, dass Räume stark auf die Anwesenheit von Menschen reagierten und es daher wichtig war, sie nicht mit „Müll“ zu belasten. Weder faktisch noch gedanklich. Sie ging beunruhigt ins Kinderzimmer: leer!
    Sie stürzte ins Schlafzimmer, das Bett war unbenutzt. Sie hatte heute keine Zeitung gelesen. Sie rief Ralf an, und ihre Hände zitterten, als sie seine Nummer wählte. Er klang verschlafen und sagte gähnend: „Nein, es ist nichts passiert, ruf doch Sybille an.“
    Lilly spürte, wie ihr die Panik den Hals zuschnürte. Der einzige Ort, an dem sie ihre Familie jetzt noch suchen konnte, war bei ihrer Freundin. Im Taxi kamen alle Bilder wieder. Das Untersuchungsgefängnis, Lea und Niklas, die dabei waren, als ihr Vater in Handschellen abgeführt wurde …
    In der schmalen Gasse im zweiten Bezirk stieg Lilly aus und sah Oskars grauen Mercedes mit den schwarzen Ledersitzen vor dem Haus stehen, in dem Sybille wohnte. Für einen Augenblick spürte sie eine Welle der Erleichterung. Dann kam die Kälte. Sie lähmte ihre Beine und stieg bis zu ihrem Herzen hoch. Im Erdgeschoss, direkt neben der Eingangstüre, war ein Modellbau­eisenbahngeschäft. Sie blieb vor dem Schaufenster stehen und starrte den schmalen Schienenkreis an, auf dem eine Zuggarnitur stand. Mechanisch las sie die Bezeichnungen, die jemand in schöner Schrift mit schwarzer Tinte auf grüne Kärtchen geschrieben hatte: „Dampflok, Kohlenwaggon, offener Güterwaggon, Kesselwagen.“ Am Rand der Bahngleise stand eine Baumallee: „Dekorbäume aus Plastik, hell- und dunkelgrün.“ Lea und Niklas liebten das Geschäft und drückten sich jedes Mal die Nase an der Glasscheibe platt. Lilly hatte schon geplant, ihnen zu Weihnachten eine Modellbaueisenbahn zu kaufen. Sie erschrak, als sich plötzlich die Haustüre öffnete und eine späte Besucherin eilig auf die Straße trat. Lilly machte zwei schnelle Schritte nach links und schaffte es gerade noch rechtzeitig, ihren Fuß in den Türspalt zu setzen. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie ging langsam die Treppe hinauf in den dritten Stock, als ob die Verzögerung dem Schicksal die Chance geben sollte, es sich noch einmal anders zu überlegen.
    Dann läutete sie zaghaft an der Tür. Sie vermutete, dass auch ihre Kinder hier waren und wollte sie nicht wecken. Nichts rührte sich. Sie nahm ihren Zeigefinger und blieb so lange auf der Klingel, bis Sybille die Tür öffnete. Sie trug einen Tangaslip, der in ihre ausladenden Hüften schnitt, und einen Halbschalenbüstenhalter aus rosa Seide, aus dem ihr üppiger Busen quoll. Ihr langes, glattes, naturblondes Haar hing ihr ins verschlafene Gesicht, und Lilly roch den speziellen Geruch von kaltem Sperma.
    Bei ihrem Anblick riss Sybille die Augen weit auf

Weitere Kostenlose Bücher