Lillys Weg
dein Reptiliengehirn, wenn ich dich daran erinnern darf. Es ist die älteste Gehirnregion und erinnert sich bei Gefahr an genau zwei Möglichkeiten: Angriff oder Flucht.â
âUnd was soll ich jetzt tun?â
âWenn du mich fragst, sagâ ich ganz einfach: Hau das Arschloch endlich hinaus, er ist es nicht wert. Ich ziehe diese Bemerkung aber wieder als unzulässig zurück und ergreife Partei für eure Kinder.â Ralf überlegte einen Augenblick. Er wusste, dass er Lilly nur erreichen konnte, wenn er in Bildern sprach.
âStell dir für einen Augenblick vor, dass es zwei Bilder gibt. In dem einen siehst du Oskar und dich. Als Paar. Ihr seid gemeinsam Wege gegangen, die euch auseinandergebracht haben und das verursacht haben, wo ihr beide heute in eurer Beziehung zueinander steht. Du hast das Recht, dieses Bild zu löschen und Oskar als deinen Partner zu verlassen.â Lilly nickte.
âDann schau jetzt auf das zweite Bild. Hier siehst du wieder Oskar und dich. Ihr habt in einem Abschnitt eures Lebens gemeinsam einen Raum geöffnet, der so einladend war, dass zwei Kinder sich entschieden haben, genau euch beide als Eltern zu wählen. Dieses Bild kannst du nie mehr löschen. Ihr werdet für den Rest eures Lebens Eltern bleiben. Lea und Niklas haben ein Recht darauf. Ihr seid gemeinsam für ihr Wohlbefinden verantwortlich, und sie haben auch ein Recht darauf, dass ihr respektvoll miteinander umgeht. Nimm dir Zeit, dir darüber klar zu werden, was du als Frau willst. Und gib Oskar, wenn du kannst, als Mann die Zeit, sich klar darüber zu werden, was er will. Ob du erträgst, dass er währenddessen bei euch wohnt, wird davon abhängen, wie es dir dabei geht.â
Lilly wollte es ertragen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Kinder beim Erwachen ihren geliebten Papa nicht sehen sollten, dass er nicht da war, um sie ins Bett zu bringen, wenn er Zeit dazu hatte.
Als sie sich von Ralf verabschiedete, nahm er sie in die Arme und hielt sie dann ein Stück von sich weg. Sie wusste genau, was jetzt kam, und schloss die Augen, damit sie seine Worte, die ihr schon so oft in schwierigen Lagen geholfen hatten, mit nach Hause nehmen konnte.
âDas unbeständige Erscheinen von Glück und Leid und ihr Verschwinden im Laufe der Zeit gleichen dem Kommen und Gehen von Sommer und Winter. Sie entstehen durch Sinneswahrnehmung und man muss lernen, sie zu dulden, ohne sich verwirren zu lassen. Bhagavad Gita 2.14.â
Ralf war Hobbybuddhist und interessierte sich auÃerdem für das Mysterienwissen der vedischen Hochkultur, die viel älter war als der Buddhismus. Er glaubte daher naturgemäà auch an Karma.
âUnd auÃerdem, es wird dich nicht beruhigen, aber die beiden laden sich gerade ein schweres Karma auf.â
Lilly lachte zum ersten Mal. Was wäre ihr Leben ohne Ralf? Er war Freund, Schutzengel, Ratgeber und Geschäftspartner in einer Person. Sie wusste, dass sie das auch für ihn war. Damals, als er entdeckt hatte, dass er homosexuell war, hatte sie ihm beigestanden und ihn darin bestärkt, zu seiner sexuellen Orientierung zu stehen. Sie war mit ihm zu seinen Eltern gefahren, und er hatte auf dem Weg nach Hause an ihrer Schulter geweint, weil die Reaktion seiner Eltern so verletzend war. Sein Vater, ein pensionierter Militärattaché, war geschockt, dass sein Sohn, für den er schon kurz nach seiner Geburt eine militärische Laufbahn geplant hatte, nun âeine Schwuchtelâ war.
Als Ralfs erster Freund bei einem Motorradunfall starb, hatte sie jede Nacht bei ihm geschlafen und ihn im Arm gehalten, bis der Schmerz erträglich wurde. Und â sie hatte immer schon ein schlechtes Gewissen gehabt, dass Oskar seinen Kosenamen für sie einfach übernommen hatte. Jetzt kam die Gelegenheit, diesen Fehler wiedergutzumachen. Sie würde ihm nie mehr erlauben, dass er sie âmeine Elfeâ nannte! Gestärkt stieg Lilly am Schwedenplatz in die StraÃenbahn und fuhr nach Hause. Sie würde diese Situation zum Wohle ihrer Kinder meistern.
Die Theorie war einfach, die Praxis die Hölle.
Am Wochenende musste Lilly zu einem Kongress über Demenz, der in der Wiener Hofburg stattfand. Sie war erleichtert über die Schonfrist und ging schon früh aus dem Haus. Am Sonntagnachmittag, als sie die Kinder von Oskar übernahm, der mit der Abendmaschine nach Frankfurt fliegen musste, spürte sie Hoffnung,
Weitere Kostenlose Bücher