Lillys Weg
âNie mehr werden seine Schuhe hier stehen.â
âNein, das werden sie nichtâ, sagte der klare, vernünftige Teil in ihr laut, und Oskar sah sie fragend an.
âOskar, ich möchte, dass du morgen ausziehst und dass wir es den Kindern gemeinsam sagen.â
Sie hatte nicht geplant, ihn im Vorzimmer damit zu überfallen, aber nun war der Satz, der so lange in ihr gewohnt hatte und den sie bisher nicht aussprechen konnte, endlich auf der Welt.
Er war so überrascht und betroffen, dass er den Kleiderbügel fallen lieÃ, auf den er seinen Mantel hängen wollte. Lilly geriet fast ins Schwanken. Sie sah die Qual in seinem Blick und wog sie für einen Augenblick in ihrer Hand. In der anderen Hand hielt sie ihre eigene Qual und sah in dem Bild, das vor ihren Augen auftauchte, wie ihre Schultern schwer wurden von der Last, die sie trug.
âEs ist genug. Ich kann dieses Leben mit dir nicht mehr ertragen. Du kannst die Kinder sehen, wann immer du willst.â
âLilly, bitte, tu uns das nicht an.â
Es war der falsche Satz zur falschen Zeit. âHast du dir schon ein einziges Mal überlegt, was du uns antust? Du hast mich nie darüber informiert, dass ich einen Mann heirate, der in dubiose Geschäfte verstrickt ist. Du hast mit mir Kinder in die Welt gesetzt, obwohl du mit einem Fuà im Gefängnis stehst. Du vögelst mit meiner Freundin herum und willst gleichzeitig dein Familiennest erhalten! Und jetzt appellierst du an mich, dass ich weiter leiden soll und nicht du? Verschwinde, um Gottes willen!â
Oskar ging stumm ins Schlafzimmer und packte ein paar Sachen zusammen. Lilly saà auf ihrem weiÃen Sofa. Es war vorbei. Sie fühlte sich leer und zutiefst erschöpft. Es gab nichts mehr zu diskutieren.
Er kam mit einem kleinen Koffer in der Hand zurück. âIch gehe jetzt.â Sie hörte das Fragezeichen und spürte seine Hoffnung, dass sie ihn bitten würde, zu bleiben.
Lilly stand auf und ging ins Schlafzimmer. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, sagte sie: âKannst du bitte in der Früh kommen, damit wir es den Kindern sagen können?â
Lea und Niklas nickten ernst und verständnisvoll, als ihre Eltern ihnen am nächsten Morgen erklärten, dass sie sie ganz lieb hätten und immer für sie da sein würden. Auch wenn sie nicht mehr miteinander leben konnten.
Doch als ihr Vater sie in die Kindergruppe brachte, klammerten sie sich an ihn und wollten nicht, dass er wegging.
Lilly hatte schon alles eingepackt und holte die Kinder zu Mittag wieder ab. Als sie mit ihrem Renault 5 die Stadtgrenze hinter sich gelassen hatten, legte sie ihre Lieblingskassette ein und sang mit, als Sam Brown vor sich hin schnulzte: âAll that Iâve got I have given to you, did you ever worry I could depend on you â¦â Die Stelle âyou better stopâ schrie sie so laut heraus, dass Lea hinter ihr sagte: âIst alles in Ordnung, Mami?â
In Mellau hing der Himmel selbst dann nicht so tief wie in Wien, wenn es in ihr dunkel war. Sie stieg aus dem Auto aus, atmete die klare Luft ein und schaute zu den Sternen hinauf. Dann trug sie die beiden Kinder, die auf dem Rücksitz eingeschlafen waren, ins Haus. Ihre Mutter fragte nicht viel und nahm Lilly einfach in die Arme. Später kam Ella vorbei, setzte sich zu Lilly an den Bauerntisch, und Mutter brachte getrockneten Speck, Bregenzerwälder Käse, selbst gebackenes Brot und Wein aus der Bodenseeregion. Lilly erzählte den beiden Frauen alles. Auch, wie blöd sie sich vorkam, dass sie so lange nichts gemerkt hatte.
âDas hast du von mir.â Der Satz kam so trocken und humorvoll, dass sie alle in Gelächter ausbrachen.
Lillys Mutter schenkte Wein nach: âDein Vater liebte mich abgöttisch. Aber er liebte das Bild, das er sich von mir gemacht hatte, und ich liebte das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, hier in den Bergen zu leben, und so bin ich ihm gefolgt. Es war damals normal, dass Frauen ihr eigenes Leben hergaben, wie ein Kleid, das man auszieht und dafür ein anderes bekommt. Das Stadtkleid hat mir nie gepasst. Als du kamst, hatte ich endlich eine Aufgabe, etwas, was mein verlorenes Herz tröstete. Ich war so vernarrt in dich, dass ich nicht mehr nach rechts und links geschaut habe. Und rechts und links waren die anderen Frauen. Sie säumten deines Vaters Weg und waren Trost und Ablenkung
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