Lillys Weg
für sie einen schmalen Holztisch aus der Scheune geholt und spielte mit Lea und Niklas. Lilly arbeitete an einem Artikel mit dem Titel âUnser Gehirn, das soziale Wesenâ und war fasziniert von den neuen Forschungsergebnissen. Aus ihrer Schulzeit wusste sie noch aus dem Biologieunterricht, dass das Gehirn ausschlieÃlich zum Denken da ist, im Alter an Abnutzungserscheinungen leidet und sich nicht wesentlich beeinflussen lässt. Und nun stellte sich heraus, dass das alles nicht stimmte. Plötzlich waren wir selbst verantwortlich für den Zustand unseres Gehirns und hatten eine Fürsorgepflicht wie für ein Kind oder einen Hund. Das Gehirn kam mit Begabungen zur Welt, die wir verstärken konnten, und auf der anderen Seite war es uns möglich, die vorprogrammierten Schwächen auszugleichen. Von nun an konnten wir uns nicht mehr auf die Veranlagung herausreden, wenn wir faul, egoistisch oder cholerisch waren. Es gab nur Anfälligkeiten, und was daraus wurde, lag an den jeweiligen Entwicklungsbedingungen und an dem, ob wir ungünstige Verschaltungen, sogenannte Synapsen, bereit waren zu verändern.
Wenn Lilly schrieb, vergaà sie für eine Weile ihre Probleme und fühlte sich wohl. Nach Wien wollte sie im Augenblick nicht zurück. Es hatte seine Unschuld verloren und war zum Platz geworden, an dem das Unglück auf sie wartete.
Ralf war ein groÃzügiger Partner. Er trug im Augenblick die Hauptlast in der Redaktion, weil Lilly wichtigere Prioritäten hatte, wie er es freundlich auszudrücken pflegte. Früher, als ihre Probleme kleiner und vorübergehender waren, hatte er nach Âeiner Weile meistens gesagt: âKannst du bitte aus dem Dramaland zurückkommen, ich brauche dich hier.â
Nach vierzehn Tagen fragte er vorsichtig an, ob der Text über die Hirnforschung schon fertig sei. Lilly steckte die ÂGeschichte in einen Umschlag, brachte sie zur Post und bat Ralf, ihr noch eine Woche Zeit zu geben.
Sie wusste nicht, wie ihr Leben weitergehen sollte.
Die Wohnung war leer, als sie nach Wien zurückkehrten. Die Kinder, die schon verdrängt hatten, dass ihr Vater nicht mehr bei ihnen lebte, waren enttäuscht. Lilly hatte mit Oskar vereinbart, dass er sie erwarten und in ihrer Abwesenheit seine Sachen wegbringen würde. Der Ãrger legte sich über den Schmerz, und sie war froh, dass sie einen Grund hatte, ihm zu grollen.
Er kam mit halbstündiger Verspätung, atemlos und mit schuldbewusstem Gesicht. Lea und Niklas stürmten an die Tür und warfen sich in seine Arme. Lilly stand ein Stück abseits und spürte ihr wehes Herz. In diesem Augenblick stand Oskar, der mit den beiden im Arm am Boden kniete, auf. Sie sahen einander an, und in einem überwältigenden Gefühl von Liebe wollte sich Lilly einfach nur noch in seine Arme werfen. Er kam auf sie zu, und sie spürte, dass er für sie bereit war. Sie schloss die Augen und wartete auf seine Umarmung. Dann roch sie Sybilles Parfum. Sie riss die Augen auf und sagte kalt: âNiemals! So nicht!â
Von nun an holte Oskar nur noch die Kinder ab, um mit ihnen etwas zu unternehmen. Sie gingen in den Zoo, wanderten im Wienerwald, fuhren mit ihrem Vater Rad oder besuchten am Wochenende Clarissa. Ihre Wohnung betrat er nicht mehr. Sie wollte es so. Ihre Kontakte beschränkten sich auf Zeitpläne und Vereinbarungen. Lilly ging in die Redaktion, versorgte Lea und Niklas und fühlte sich wie eine Maschine, die automatisch funktioniert. Am schlimmsten war es am Abend, wenn die Kinder schon im Bett lagen. Dann kam die Stille, die sie eigentlich liebte, und brachte als ungebetenen Gast die Einsamkeit mit. Selbst der Klodeckel erinnerte sie an ihren Verlust. Es gab plötzlich niemanden mehr, der vergaÃ, ihn wieder zu schlieÃen.
Ralf machte sich Sorgen um sie: âDu musst wieder leben, ÂLilly. Du kannst nicht wie ein Gespenst, das man im Schrank einsperrt, darauf warten, ob Oskar sich bald bei Sybille satt gegessen hat. Und falls es dich beruhigt, er hat jetzt neben Sybille bereits wieder eine Nebenfrau. Sie ist zwanzig und die Tochter eines bekannten Fernsehmoderators. Er war früher einmal kurz mit ihrer Mutter zusammen.â
Lilly mochte Schadenfreude nicht. Es war ein primitives Gefühl, das sich ein zivilisierter Mensch einfach nicht leisten sollte. Sie wurde rot, und Ralf sagte: âRache ist süÃ, und manchmal muss man sich dabei nicht einmal
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