Lillys Weg
und sich zu Sybille ins Bett legen? Sie stellte sich vor, wie er, nachdem die Kerzen am Christbaum gelöscht waren und die Kinder schliefen, sich die Schuhe anzog und sich mit schuldbewusstem Gesicht davonschlich und zu seiner Geliebten fuhr. Das einzig Gute an ihrer neuen Lage war: Sie musste nicht mehr mit Clarissa feiern. Das war vorbei. Dieses grauenvolle Weihnachtsfest mit ihrer Schwiegermutter, die sie mit Blicken erdolchte und eine genaue Berechnung anstellte, ob die Geschenke gerecht verteilt waren, würde ihr erspart bleiben. Ihre Schwiegermutter wusste nichts von Âihren Eheproblemen, und sie war sicher, dass ihr Sohn eine elegante Ausrede finden würde, warum sie sich diesmal der heilen Welt unter dem Christbaum entzogen.
Lillys Leben war zäh und grau geworden, wie ein alter Kaugummi, den sie schon lange hätte ausspucken sollen. Doch sie unternahm nichts, weil ihr vor den Folgen graute. Ihre Ehe mit Oskar existierte nur noch auf dem Papier, doch die endgültige Trennung erschien ihr noch viel schlimmer.
Als Paulines Brief kam, war er wie ein Geschenk des Himmels. Sie schrieben einander selten, dann aber dafür sehr ausführlich. Lillys Briefe an die Freundin in StraÃburg, die sie bei der Traumafortbildung in Lyon kennengelernt hatte, waren wie eine Art Tagebuch. Mit ihr konnte sie reflektieren, was sie gerade beschäftigte, und die Tatsache, dass ihr Gegenüber fast achthundert Kilometer entfernt war, machte es sogar leichter. Pauline, die die Leiterin einer Lebensschule für Erwachsene war, antwortete ihr ausführlich auf ihre Schilderung der Probleme mit Oskar. Diesmal hatte sie einen Prospekt beigelegt und geschrieben: âIch werde an âTod und Auferstehungâ, einem Seminar von Paul Rebillot, teilnehmen. Komm mit, ich bin sicher, dass es dir hilft, wieder ganz lebendig zu werden.â
Lilly war überrascht. Sie hatte sich noch nie wirklich mit dem Tod beschäftigt. Auch nicht, als Vater starb. Sie wollte mit diesem brutalen Einschnitt ins Leben nichts zu tun haben. Tod bedeutete Vernichtung, Weggerissenwerden von den Menschen, die man liebt.
Vor ein paar Tagen hatte sich eine kleine Kohlmeise verirrt. Sie war wohl von dem groÃen Baum vor der Servitenkirche gekommen und in ihre Fensterscheibe geflogen. Lilly und Lea hatten das dumpfe Geräusch gehört und sahen sie dann regungslos auf der StraÃe liegen. Niklas schlief gerade, und als sie mit ihrer Tochter auf dem Trottoir stand und hilflos auf den toten Vogel starrte, wäre sie am liebsten weggelaufen. Sie war zutiefst beschämt, als Lea sich bückte und das kleine Tier zärtlich in ihre Hand nahm und streichelte. âDu kommst jetzt in den Himmelâ, flüsterte Lea. âDort ist es auch schön.â
Paulines Brief und Prospekt in der Hand, rief sie sofort an: âTu est fou! Du bist verrückt!â Sie sprachen französisch miteinander, und Lilly merkte, wie ihre Heiterkeit zurückkam. Sie liebte diese Sprache. âWieso soll ich mich in meiner Lage, wo ich den Kopf ohnehin kaum über Wasser halten kann, sechs Tage mit dem Tod beschäftigen?â â âWeil der Gedanke an den Tod das Leben kostbar macht. Weil du dann weiÃt, was du wirklich willst, wenn du die Illusion aufgibst, dass du ewig Zeit hast, um wieder glücklich zu sein.â
Das Seminar startete in einer Woche. Lilly war froh, dass der Redaktionsschluss fürs nächste Heft ihr die Entscheidung abnahm. âDann komm mich doch danach besuchen!â â âJa, vielleichtâ, antwortete Lilly und hörte plötzlich zum ersten Mal das âLeichtâ in diesem Wort.
Lilly spürte, wie der Gedanke, für ein paar Tage aus ihrer ungelösten Beziehung auszusteigen, sie erleichterte. Sie lebte wie ein Hamster im Rad, und jedes Mal, wenn Oskar ihr einen Bissen zum Fraà vorwarf, hielt das Rad kurz an, und sie glaubte für Âeinen Augenblick, dass sie aus diesem Kreislauf von Verzweiflung, Wut und Hoffnung aussteigen konnte. So wie gestern. Er hatte die Kinder abgeholt, um mit ihnen in den Zirkus Roncalli zu gehen. âWillst du nicht mitkommen, es wäre so schön, wenn wir wieder einmal gemeinsam etwas unternehmen könnten.â Nach kurzem Zögern hatte sie eingewilligt. Für ein paar Stunden wieder eine heile Familie sein â¦
Lea und Niklas waren so rührend glücklich gewesen, als sie zwischen ihren Eltern ganz nah bei der Manege
Weitere Kostenlose Bücher