Lillys Weg
gesessen hatten, dass durch das Strahlen ihrer Kinder die Barriere zwischen ihnen für einen Augenblick zu einem kleinen, höchstens zehn Zentimeter hohen Zaun schrumpfte. In der Pause hatte Oskar Popcorn und gebrannte Mandeln für alle gekauft und den Arm um Lillys Schultern gelegt. Auf dem Weg nach Hause war Niklas im Auto eingeschlafen, und Oskar hatte ihn liebevoll auf seinen Armen ins Bett getragen. Er war ein guter Vater.
Die Trennung hatte seinen Kontakt zu den Kindern intensiviert. Er nahm sich viel mehr Zeit als früher und tat alles, um ihnen die schwierige Zeit zu erleichtern. Er kam, nachdem er die Kinder ins Bett gebracht hatte, ins Wohnzimmer und sagte bedauernd: âIch kann leider nicht bleiben, danke für den schönen Nachmittag.â
Die Enttäuschung überrollte sie wie eine riesige Welle, die das kurze, vermeintliche Glück mit sich riss. Dann kam die Wut. Auf Oskar, der ihr immer wieder Hoffnungen machte, und auf sich selber, weil sie immer wieder erneut darauf hereinfiel. Lilly hatte das Glück, dass sie wenig Alkohol vertrug. Ein kleiner Whisky oder zwei Achtel Wein. Das war die Grenze zur Ãbelkeit. Sie hätte sich gern sinnlos betrunken, stattdessen machte sie sich eine heiÃe Milch mit Honig und sehnte ihre Oma herbei.
Am nächsten Tag rief Lilly Oskar an und fragte ihn, ob er bereit wäre, eine Woche mit den Kindern zu leben. Es fiel ihr schwer, aber sie bot ihm an, in der Servitengasse zu wohnen, Tilde würde ihn unterstützen. Es war besser für die Kinder,
und sie nahm sich vor, bei ihrer Rückkehr das Ehebett zu entsorgen.
StraÃburg empfing sie mit strahlendem Herbstwetter. Sie hatte Pauline gebeten, sie erst am nächsten Morgen vom Hotel abzuholen: âIch habe einen Tick, ich liebe es, Städte zuerst ganz allein zu erkunden. Ich möchte nicht, dass dein kundiger Blick meinen sofort auf das lenkt, was sehenswürdig ist.â
Lilly hatte sich bewusst nicht über StraÃburg informiert und sich auch keinen Reiseführer gekauft. Sie wollte sich einfach treiben lassen. Als Kind hatte sie Mémés Wunsch, ihr Lyon systematisch zu erschlieÃen, aus Liebe zu ihrer GroÃmutter akzeptiert. Jetzt eroberte sie sich fremde Orte auf ihre eigene Art und Weise. Die Stadtführung nach Plan rangierte bei ihr auf dem letzten Platz.
Sie stieg am Bahnhof aus und mochte StraÃburg vom ersten Augenblick an. Pauline hatte ihr ein kleines, charmantes Hotel in der Rue du Maroquin, einer der schmalen SeitenstraÃen beim berühmten Dom, gebucht, und Lilly war von ihrem kleinen Zimmer unterm Dach mit den schrägen Wänden und den geblümten Tapeten begeistert. Sie mochte groÃe Hotels nicht, sie fühlte sich in der Anonymität der austauschbaren Architektur einsam und litt unter den einstudierten Satzbausteinen des Personals. Hier stand die Besitzerin an der Rezeption, eine freundliche Elsässerin, die sie mit gut gemeinten Informationen überschüttete.
Wenn Lilly Städte bereiste, die sie noch nicht kannte, traf sie fast immer interessante Menschen. Die meisten nur für einen Augenblick, weil sie nach einem gemütlichen Restaurant oder nach einer bestimmten StraÃe fragte. Dieser kleine, banale Kontakt zu den Einheimischen gehörte für sie zum Atem der Stadt. Das alte Ehepaar, das sie gebeten hatte, ihr eine Spezialität der Region und das passende Lokal dafür zu empfehlen, machte ein âgrand théâtreâ daraus.
Lilly genoss die Komödie, in der sich die beiden zunächst spielerisch darüber stritten, was und wo sie essen sollte, und sich anschlieÃend in den Haaren lagen, weil sie sich nicht über den besten Weg dorthin einigen konnten. Sie beobachtete die beiden, die weit über siebzig sein mussten, und wurde traurig.
âIch will mit dir alt werden, Oskarâ, flüsterte sie, und plötzlich war die abenteuerlustige Nomadin verschwunden. Sie fühlte sich wie ein nackter, junger Vogel, der aus dem Nest gefallen war. Lilly rief Pauline an und sagte mit einer ganz dünnen, kleinen Stimme: âKannst du bitte mit mir zu Abend essen? Ich kann fremde Städte im Augenblick nicht verkraften.â
Pauline fuhr sicher und zügig durch die Hügel der Vogesen. Lilly hatte sich am letzten der drei Tage mit ihrer Freundin einen Ausflug aufs Land gewünscht.
Sie sah sie von der Seite an. âDu siehst so jung aus, dass man dir dein biologisches Alter
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