Lillys Weg
einfach nicht glaubt.â Sie hatte bis gestern gedacht, dass sie ungefähr im gleichen Alter waren, und staunte noch immer über diese Fünfzigjährige, die so gar nicht dem Bild in ihrem Kopf entsprach, das sie sich von älteren Frauen gemacht hatte. Ihr zierlicher Körper sah aus, als ob sie Ballett tanzte, durchtrainiert und gertenschlank. Ihr Gesicht mit den nussbraunen Augen, das sie ihr jetzt mit einem Lächeln kurz zuwandte, war fast faltenfrei. Das dichte, braune, gelockte Haar war kinnlang geschnitten und mit grauen, attraktiven Strähnen durchsetzt. Natur pur. âWie machst du das, Pauline?â
âIch ernähre mich von Naturprodukten, mache täglich eine halbe Stunde Yoga und bin mit meinem Leben in Frieden. Mit allem. Mit dem Leichten und mit dem Schweren.â Lilly wusste, dass Pauline mit ihrem Mann ein Haus in einer Ãkosiedlung gebaut hatte. Es war noch im Rohbau, als er sie verlieà und sie als Single in einer Gemeinschaft von Paaren zurückblieb.
Würde sie ohne Oskar auch so glücklich und ausgeglichen werden können? Wenn Pauline über Beziehung sprach, dann klang alles so nachvollziehbar: âEs ist dein Leben, und wenn du auf seiner Liebe als unverzichtbaren Baustein zu deinem Glück bestehst, dann liegst du wie ein Maikäfer auf dem Rücken und kannst nicht handeln. Höre dir einmal selber zu, wenn du zu Oskar den Satz sagst: âDu bist für mein Lebensglück verantwortlich.ââ
Pauline hatte leicht reden. Sie war letzte Woche dem Tod begegnet, auch wenn es nur ein virtuelles Sterben gewesen war. Sie hatte sechs Tage nichts anderes getan, als ihr Leben Revue passieren zu lassen, Abschied zu nehmen, sich eine Todesart auszusuchen, ein Testament zu schreiben und sich zu überÂlegen, wer die Grabrede halten sollte. Und schlussendlich hatte sie sich auf ihr Totenbett gelegt und war am nächsten Tag wieder auferstanden. Es war einfach, sich nach einem solchen ÂProzess dankbar, frei und glücklich zu fühlen. âGlaube mirâ, hatte sie schon zur BegrüÃung gesagt: âEs ist so nützlich, immer wieder an den Tod zu denken, es relativiert die Probleme des Alltags.â
Lilly war fasziniert von den Erzählungen der Inszenierung des amerikanischen Therapeuten und übte, als sie durch die herbstlich gefärbten Hügel der Vogesen wanderten, das Mantra, das Pauline aus ihrem Seminar mitgebracht hatte. Sie merkte, dass sie es nur auf Französisch mochte. Es klang wie eine Melodie, die der Wind spielerisch mitnahm, wenn er ihren Mund verlieÃ. In der für sie ernsten, deutschen Sprache war das Mantra eher eine Bedrohung als eine Erinnerung an die Verpflichtung zu einem guten Leben.
âLa mort est certaine, elle arrive sans prévenir, ce corps va devenir un cadaver.â 08
Sie mochte in der deutschen Version vor allem das Wort Kadaver nicht und ersetzte es durch verwesen, als sie spät am Abend mit Ralf telefonierte.
Je länger sie sich an diesem Nachmittag mit dem Tod beschäftigte, desto stärker wurde ihre Dankbarkeit. Für ihre Kinder, für die Menschen, die sie liebte, für den Luxus, in dem sie lebte, für ihren gesunden Körper, für das Land, in dem sie geboren war. Die einzigen wunden Punkte, aber das spürte sie erst am Abend, als sie in ihrem Hotelbett lag, blieben Oskar und Sybille. Es war unmöglich, von den beiden frei zu werden.
Pauline schlug ihr beim Frühstück am nächsten Morgen vor, zwischen sich und ihre ehemalige Freundin eine starke, mentale Grenze zu ziehen: âDu bist nicht mehr meine Freundin, und ich will mit dir in diesem Leben nie mehr etwas zu tun haben. Das ist meine Wahrheit.â
Lilly atmete auf, als sie den Satz wiederholte, und war erÂleichtert, dass diese Klarheit sie entlastete, auch wenn es kein Verzeihen gab. Mit Oskar war es viel schwieriger. Sie spürte noch immer ihre tiefe Liebe, und gleichzeitig stand der Verrat in GroÃbuchstaben zwischen ihnen.
Pauline hatte sie in StraÃburg zum Zug gebracht. Sie fuhr nach Zürich und von dort weiter nach Dornbirn. Sie wollte einen Puffer zwischen den tiefen Gesprächen in den Vogesen und ihrem Alltag schaffen, und das konnte nur der Bregenzerwald sein.
In Basel stürmten plötzlich Massen den Zug. Irgendwo waren Ferien, und die Bahn hatte versäumt, zusätzliche Waggons einzuplanen. Lilly sah zu, wie sich Menschen um Sitzplätze fast
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