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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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sich ganz eng an sie. Für einen Augenblick hoffte sie, dass alles wieder gut war, und entspannte sich in Oskars zärtlicher Umarmung.
    Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof kam die Realität als ungebetener Gast vorbei: „Mein Auto ist nicht angesprungen, ich hatte keine andere Wahl“, sagte er und hielt seiner Frau die Tür auf, damit sie in Sybilles schwarzen Austin Mini steigen konnte. In der Servitengasse ertrug Lilly ein gemeinsames Abendessen mit den Kindern und bat ihren Mann, bevor sie Lea und Niklas eine Gutenachtgeschichte vorlas, ihre Wohnung zu verlassen.
    Der Alltag war eine einzige Herausforderung. Sie liebte ihre Kinder, und gleichzeitig merkte Lilly, wie viel Kraft und Logistik dahintersteckte, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. In Straßburg hatte sie sich dreimal täglich an einen gedeckten Tisch setzen und sich ausschließlich mit ihrem Innenleben beschäftigen können.
    Oskar kam öfter vorbei als früher, als ob er spürte, dass sie sich verändert hatte. Lilly bemühte sich täglich, an ihr Mantra zu denken, aber es kam ihr, wenn sie von einer Verpflichtung zur nächsten hetzte, manchmal absurd vor.
    Ihre erotische Oase bei Arthur war auch vorbei. Sie trafen sich im Café Prückel und stellten fest, dass die ungebremste Geilheit, wie er es nannte, sich nicht mehr einstellen wollte. Sie sprachen über den Tod und waren sich einig, dass es, wenn sie ans Sterben dachten, in einer Beziehung mehr braucht als „einen guten Fick“. Lilly hatte sich längst daran gewöhnt, dass Arthur nicht einmal die Stimme senkte, wenn es verbal zur Sache ging, und lächelte die Dame mit dem Zitronengesicht am Nebentisch, die höchst irritiert war, freundlich an.
    Ralf, der sie bei ihrem Ringen um Klarheit still beobachtete, brachte ihr eines Tages Fernando Pessoa mit. Er legte Das Buch der Unruhe auf ihren Schreibtisch und sagte beiläufig, bevor er ihr Büro wieder verließ: „Ich habe dir ein Lesezeichen hineingelegt und die Stelle markiert, damit du nicht lange suchen musst.“
    Ralf liebte es, das, was er sich dachte, durch Zitate aus Büchern zu überbringen, und nannte es „literarische Bildungswerkstatt“. Lilly, die aus einem Elternhaus kam, in dem entweder Geschäftspapiere oder der Mondkalender gelesen wurden, genoss diesen zweiten Bildungsweg und hatte durch ihn schon viele wunderbare Autoren entdeckt.
    Sie öffnete das Buch, nahm das Lesezeichen heraus und las: „Es gibt eine seelische Niedergeschlagenheit, die weitergehend ist als alle Angst und aller Schmerz; ich glaube, sie ist nur denen bekannt, die Angst und Schmerz meiden und sich selbst gegenüber so diplomatisch sind, ihrem eigenen Überdruss aus dem Weg zu gehen.“
    Der Text öffnete in ihr eine Tür, vor der sie schon lange gestanden und darauf gewartet hatte, dass sie den Mut hatte, einzutreten. In Gedanken versunken blätterte sie weiter in dem Buch und blieb an einer Stelle hängen, die ihr die Tränen in die Augen trieb:
    â€žZwei Menschen sagen ‚ich liebe dich‘ oder denken und fühlen es gegenseitig, und doch verbindet jeder damit eine andere Vorstellung, ein anderes Leben, vielleicht sogar eine andere Farbe, ein anderes Aroma oder einen anderen Duft innerhalb der abstrakten Summe von Eindrücken, die das Seelenleben ausmacht.“
    Lilly ging zu Ralf, der in seinem Büro auf einer orangefarbenen Matte am Boden lag und Yogaübungen machte. Sie hatte am Anfang über seine Inkonsequenz gelästert, dass jemand, auf dessen Tagesordnung ganz oben „no sports“ stand, sich dehnte, streckte und in allen Variationen verrenkte. „Yoga ist kein Sport, es ist eine Lebenshaltung. Es befreit nicht nur den Körper, sondern auch den Geist“, hatte er damals gleichmütig gesagt, und Lilly hatte bildlich vor sich gesehen, wie er ihre spitze Bemerkung an sich abperlen ließ.
    â€žIch bin gleich fertig“, sagte er jetzt, ohne außer Atem zu kommen, und beendete den Sonnengruß, der sie fatal an die verhassten Liegestützübungen in ihrer Schulzeit erinnerte.
    Er bot ihr eine Tasse Grünen Tee an, setzte sich mit ihr in die Besucherecke und schlug die Beine in seiner unnachahmlichen Weise übereinander: „Du hast dir also überlegt, was du tun willst?“
    â€žIch bin so wütend, Ralf, Oskar hat alle bunten Farben gepachtet. Er hat zwei Frauen, die ihn lieben, und

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