Lillys Weg
festhält. Er zieht wenig später das fertige Bild aus seinem Apparat und hält es uns entgegen. Wir lachen alle auf dem Foto, weil eine Taube sich auf meinen Kopf gesetzt hat. Oskar reiÃt ihm das Beweisstück über seinen Aufenthaltsort so rasch aus der Hand, dass der Fotograf verblüfft und irritiert schützend die Hand auf seine Kamera legt. Wir bezahlen und fliehen vom Markusplatz in eine der kleinen Nebengassen.
Am Nachmittag der Schock. In einer Parfümerie, in der ich die vergessenen Zahnbürsten für die Kinder kaufe, begegne ich Micki Flox. Micki, der liebenswerte Micki, die Klatschbase. Ich versuche, ihm zu entkommen, es ist zu spät. Er freut sich, mich zu sehen, und umarmt mich begeistert: âWas für ein schöner Zufall, Lilly, lass uns ein Glas Wein trinken!â Wir haben früher in Oswald & Kalb manchmal miteinander an der Bar gestanden, ich mag ihn. Er besitzt eine Damenboutique-Kette, die seinen Namen trägt, kauft immer in Italien ein und betrügt seine Frau mit wechselnden Damenbekanntschaften, die er auf seine Reisen mitnimmt. Heute ist er leider allein. Ich stammle etwas von Eile, zahle und flüchte aus dem Laden. Micki ist hartnäckig, folgt mir vor die Tür und trifft auf Oskar. Der gibt sich gelassen, wir gehen auf einen Drink, ich bin in Panik. Was, wenn es einen Haftbefehl gibt, was, wenn Micki allen erzählt, dass er uns hier gesehen hat? Ich forsche in seinem Gesicht und versuche herauszufinden, ob er seine Gedanken vor uns versteckt. Er benimmt sich ganz normal, erzählt uns den neuesten Tratsch aus Wien und dass jetzt die einzige Jahreszeit sei, in der man Venedig genieÃen könne. Wir pflichten ihm erleichtert bei und laden ihn zu einem zweiten Glas Prosecco ein. Es kann keinen Haftbefehl geben! Beim Abendessen betrinke ich mich. Ich will die ständige Angst vergessen, will vergessen, dass es unÂser letzter Abend ist.
6. März 1988
Unser letzter Tag in Venedig ist so trüb wie das Wetter. Wir spüren alle das Ticken der Uhr. Noch wenige Stunden, dann sind wir wieder getrennt. Wir fahren mit den Kindern auf die Insel Burano und essen Fisch. Im selben Lokal, in dem ich mit Oskar kurz nach unserer Hochzeit so glücklich war. Es ist lange her und Âgehört zu einem Leben, das so weit entfernt ist wie ein vergilbtes Foto in einem Album.
Sein Zug fährt eine halbe Stunde vor unserem. Wir haben uns schon im Abteil eingerichtet, Oskar gibt dem Schlafwagenschaffner noch ein groÃes Trinkgeld, damit er uns gut betreut. Dann warten wir auf seinem Bahnsteig. Roma steht auf dem Schild am Waggon. Roma, dort wartet sein gelbes Auto â und was dann? Er weià es selbst nicht. Bei seiner Jugendfreundin und ihrem Mann kann er nicht länger bleiben. Die Wohnung
ist zu klein, und die beiden haben Angst. Der Schaffner schlägt die Türen zu, wir laufen neben dem Zug her. Schon wieder Abschied, schon wieder sein trauriges Lächeln hinter einem Zugfenster.
Ich nehme Lea und Niklas ganz schnell an der Hand. âWer ist als Erster bei unserem Abteil?â, rufe ich, und wir rennen alle los.
Sie sitzen in ihren Schlafanzügen auf den Betten, jedes Kind mit seinem Kuscheltier im Arm. âBitte, bitte, erzähl uns eine Geschichteâ, betteln sie, und ich erfinde den Hund mit den roten Ohren, den niemand wollte und der jetzt etwas Besonderes ist. Ein Zirkuskind findet ihn im Wald und rettet ihn vor dem Hungertod. Seither tritt er jeden Abend in der Manege auf und galoppiert den Ponys hinterher. Seine roten Ohren wehen im Wind und bringen alle Kinder zum Lachen. Doch heute hat er ein Problem. Er wird in dem Dorf, in dem der Zirkus zu Gast ist, verdächtigt, beim Fleischer eine Wurst gestohlen zu haben. Mit Schimpf und Schande wird er aus dem Geschäft gejagt, und der Zirkusdirektor droht ihm, ihn zu den Löwen zu sperren. Doch dann klärt sich alles auf. Die Katze des Fleischers war die Täterin. Als Wiedergutmachung bekommt er vom Fleischer einen ganzen Kranz bester Extrawurst und ein neues Halsband. Niklas fragt: âKaufen wir dem Papa auch einen Kranz Extrawurst, wenn er zurückkommt?â
8. März 1988
Die Telefonzelle in der Schule ist kaputt. Ich liege auf einem fremden Bett, mitten am Vormittag, und warte, dass das Telefon läutet. Ich schmökere in den Büchern von Johanna und kann doch nichts aufnehmen. Ich vertraue ihr. Unsere Freundschaft hat einen sicheren Boden. Sie ist
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