Lillys Weg
Spaà macht, Karikaturen unserer selbst zu sein. Dann verschwinden wir alle in den öffentlichen Toiletten in der Nähe und kommen leider nicht mehr heraus. Joschi, der ungarische Freund eines ungarischen Freundes von Ralf, hat die Hintertür zum Waschraum, die normalerweise abgesperrt ist, irrtümlich offen gelassen. Er ist zuständig für die Reinigung. Sie würden ihm keinen Vorwurf machen können, er kann seine Gäste nicht ständig kontrollieren. Im Zickzack rennen wir vorbei am erleuchteten Riesenrad zum Praterstern. Ein anonymes Taxi zum Westbahnhof ist das beste. Wir holen unser Gepäck aus dem SchlieÃfach. Ich habe jeden Tag ein oder zwei Stücke mit in die Redaktion genommen, die Ralf in einen Koffer gepackt und hier deponiert hat. Der Schlafwagenschaffner schaut oberflächlich auf unsere Pässe und fragt mürrisch, was wir morgen zum Frühstück trinken wollen. Ich liebe seine Gleichgültigkeit, sie ist die beste Voraussetzung für eine sichere Reise. Er ist schon zu lange im Dienst, um sich freiwillig zusätzliche Gedanken zu machen. Ich bin sicher, dass uns niemand gefolgt ist, und lehne mich erschöpft und entspannt zurück. Die Kinder streiten sich darum, wer im oberen Bett schlafen darf. Ich mag es, wenn sie streiten. Meistens sind sie viel zu rücksichtsvoll und viel zu vernünftig. So als wäre ihnen klar, dass ich eine zusätzliche Belastung nicht verkraften kann. Ich weià leider, dass es stimmt. Wir müssen zusammenhalten.
4. März 1988
Die Sonne scheint, Lea und Niklas sind aufgeregt und glücklich. Sie bestaunen die Boote, die uns vom Bahnhof zu ihrem Papa bringen werden. Venedig macht mich schwermütig. Die Stadt der Liebenden erinnert mich zu sehr daran, dass unsere Zukunft ungewiss ist. Wird Oskar jemals wieder ein ânormalerâ Liebender sein? Die weiÃen Vaporetti und die Postkartenkulisse kommen mir vor wie eine Inszenierung mit dem falschen Bühnenbild. Ich habe Angst.
In dem kleinen Hotel, in dem wir immer wohnen, ist Oskar noch nicht angekommen. Wir stellen uns auf eine der kleinen Brücken in der Nähe, halten unsere Gesichter in die milde Märzsonne und warten. Was, wenn er nicht kommt?
Eine Stunde vergeht.
Die Kinder beginnen zu quengeln und versuchen, auf das Geländer zu klettern. Ich ermahne sie genervt.
Zwei Stunden vergehen.
Ich bin stumm vor Panik. Lea und Niklas spüren meine Angst und drängen sich an mich. Was, wenn wir vergeblich hierher gefahren sind?
Zurück im Hotel fragen wir, ob es inzwischen eine Nachricht gibt, ob Oskar vielleicht angerufen hat. Die Signora schüttelt den Kopf und empfiehlt uns, inzwischen auf den Markusplatz zu gehen. Ich kann nicht weg. Ich habe Angst, dass wir uns verpassen, dass wir uns verlieren.
Wir warten. Diesmal direkt vor der Tür auf kleinen Klappstühlen, die uns die Signora hingestellt hat. Sie hat warme, gute Augen und hinter ihrer mehlbestäubten Schürze einen weichen Bauch, in den ich mich am liebsten vergraben würde. In mir weint es plötzlich. Mama. Mama. Mama. Ich erkenne die Stimme der kleinen Lilly und dränge sie zurück. Ich bin hier die Mama, ich muss für unsere Kinder und für Oskar da sein. Plötzlich fällt mir auf, dass ich ihn im gleichen Atemzug nenne und bin damit einverstanden: Ich werde auch für dich sorgen, das verspreche ich dir, sage ich leise.
Und dann läuft er endlich über die Brücke. Dieser kleine, drahtige, geliebte Kerl. Ich bin glücklich. In unsere Umarmungen und Küsse hinein flüstert Oskar mir ins Ohr: âAm Bahnhof von Rom war eine Polizeirazzia. Sie haben viele Obdachlose verhaftet. Ich musste, um sicher zu sein, den nächsten Zug nehmen.â
Wir haben ein groÃes Zimmer und schlafen in dieser Nacht alle in einem Bett. Ob Menschen, die keine Angst haben müssen, dass sie einander verlieren, jemals so dankbar und glücklich sein können? Wir drängen uns alle an Oskar, als ob unsere warmen Körper die Gefahr vertreiben könnten.
5. März 1988
Wir wollen den Kindern den Campanile zeigen und füttern Tauben am Markusplatz. Für einen Tag sind wir Touristen in der Lagunenstadt. Oskar sieht entspannt und gleichzeitig zutiefst erschöpft aus. Wir zünden Kerzen im Dom an und beten gemeinsam darum, dass unsere kleine Familie gerettet wird.
Der Fotograf fragt uns nicht, als er auf den Auslöser drückt und die Szene
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