Lillys Weg
inzwischen meine beste Freundin in Wien. Oskar ruft endlich an. Es ist halb zehn vormittags. Eine halbe Stunde später als vereinbart. Jede Minute, die ich warte, füllt sich mit Angst. Er ist in Frankreich. Regen und Kälte, Einsamkeit und Angst. Das Land der duftenden Kräuter, der guten Weine und des knusprigen Brotes, unser Frankreich, wie wir es lieben, gehört der Vergangenheit an. Er fährt rastlos von Ort zu Ort und weià nicht, wohin. Ich sehe ihn vor mir, wie er im kalten Bus am Waldrand und auf wenig befahrenen Feldwegen schläft. Ich stelle mir vor, wie er, für den ein gepflegtes ÃuÃeres so wichtig ist, immer mehr verwahrlost, weil er es nicht wagt, ein Hotel zu betreten. Ich weiÃ, dass er manchmal in öffentliche Schwimmbäder geht, damit er sich endlich wieder waschen kann. Aber es ist gefährlich.
Ich denke an unsere Reise im ersten Jahr nach unserer Hochzeit. An unser Lieblingscafé in Aix-en-Provence und an die ÂKajakfahrt auf der Ardèche, diesem Fluss, den ich mir für immer merken werde. Dort haben wir, als wir gekentert sind, das erste Mal gestritten und uns richtig angebrüllt. Ich wäre dankbar für jeden Streit, wenn es bedeutete, dass Oskar wieder bei mir ist.
10. März 1988
Ich lüge täglich besser. Immer wieder fragen mich Freunde und Kollegen nach Oskar. Ich erzähle von England und werde immer kühner. Ralf hat einen Freund in London, den er jeden zweiten Tag anruft und nach dem Wetter fragt. Ich kann genaue Auskünfte geben. Aus dem Reiseführer suche ich mir Restaurants aus, die er besucht haben könnte. Ich bin so gut, dass ich es fast selber glaube. âJa, eine groÃe Maschinenfabrik wird geplant. Oskar führt die Verhandlungen und bringt sein Know-how ein.â AuÃer Ralf, Johanna, Mama und Ella kennt niemand die Wahrheit.
Ich treffe mich mit Kristina. Wir reden nicht über unsere Männer, aber unsere Blicke sagen alles. Wir sitzen im Jägerhaus, am Ende der Prater-Hauptallee, und trinken Tee. Ich sage ihr nicht, wo Oskar sich versteckt, und sie sagt mir nicht, wo Paolo sich aufhält. Ob sie ihn auch besucht? Ich weià es nicht und frage sie auch nicht. Wir müssen uns davor schützen, einander gegenseitig belasten zu können. Ich möchte sie gerne fragen, warum sie mich damals in ihr Haus am Semmering eingeladen hat. Aber ich weiÃ, dass jetzt kein guter Augenblick dafür ist. Wir müssen uns auf das konzentrieren, was jetzt wirklich zählt.
12. März 1988
Oskar ist wieder in Italien. Er könnte hier ziemlich einfach einen falschen Pass bekommen, sagt er. Aber will er einen falschen Pass? Will er dieses Leben für immer verlassen und eine fremde Identität annehmen? Auswandern irgendwohin, neu anfangen in der Hoffnung, dass wir eines Tages nachkommen können? Ich kann ihm die Entscheidung nicht abnehmen. Es ist sein Leben, das auf dem Spiel steht, und ich glaube an seine Unschuld. Ob er eine Chance hat? Die Vorverurteilung in Ãsterreich läuft schon so lange. Aber er ist deutscher Staatsbürger. Kann er dort Gerechtigkeit erlangen?
Er hat inzwischen einen eigenen Anwalt. Ich will nicht mehr, dass er von Paolos Anwälten vertreten wird. Markus Längle ist jung, ehrgeizig und gleichzeitig erfahren. Er ist gebürtiger Vorarlberger, das schafft für mich eine gute Vertrauensbasis. Er lässt Oskar ausrichten, dass er sich entscheiden soll, dass er jetzt sofort nach Deutschland muss, wenn er sich einem deutschen Gericht stellen will. Es kann nur noch wenige Tage dauern, bis die Grenzen dicht sind. Ein Haftbefehl ist nicht mehr zu vermeiden. ÂInzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern â Paolo ÂVicente und Oskar Baldini sollen geflüchtet sein.
16. März 1988
Flughafen Hamburg. Ich spähe durch die Glasscheibe. Lauter Fremde. Wenn er nicht kommt, bin ich verloren. Ich habe keine Kontaktadresse, wenn etwas schiefgeht. Ich beobachte alle Passagiere, die sich um das Kofferrollband scharen. Die ewig gleiche Angst und die ewig gleiche Frage: Ist mir jemand gefolgt, hat jemand bemerkt, dass ich das Land verlassen habe? Es dauert eine Ewigkeit, bis mein Koffer kommt. Ich denke für einen Augenblick an Lea und Niklas. Es fällt mir jedes Mal schwer, sie zurückzulassen. Meine Mutter kümmert sich um sie.
Oskar steht hinter einer Säule. So klein und verlassen, dass ich ihn kaum sehen kann. Es muss ihm schlecht gegangen sein
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