Lillys Weg
sollten sich schämen, Ihr Kind mitten am Tag so herumlaufen zu lassen.â
Meine Knie werden weich. Ralfs Auto ist nicht da. Eine Sekunde später steigt er aus einem BMW aus. Er lächelt und breitet seine Arme aus: âDas Auto gehört einem Freund, das ist sicherer.â Wir steigen rasch ein, Lea zieht auf dem Rücksitz die Kleider an, die schon bereitliegen. Wir schweigen, unsere Nerven sind bis zum ÃuÃersten gespannt. Ralf steuert das Auto vorsichtig durch den Verkehr. Ich bete, dass wir nicht in einen Unfall verwickelt werden.
Viktor wartet an der ersten Autobahntankstelle. Es geht ganz rasch. Aussteigen, umsteigen, weiterfahren. Im Rückspiegel sehe ich Ralf, der uns beruhigt nachwinkt.
Ich weià nicht, wie lange wir Zeit haben, bis jemand nach uns sucht. Hoffentlich lange genug. Wir müssen noch eine Hürde überwinden: die Grenze Walserberg.
Und wieder sind wir gut vorbereitet. Der Pass von Viktor liegt aufgeschlagen ganz oben, darunter die beiden deutschen Kinderpässe in ihren Hüllen und dann erst meine Dokumente. Wir sind ein glückliches Ehepaar. Ich lege die Hand zärtlich auf Viktors Arm und bete still. Ich habe auch den Kindern gesagt, dass das nützlich sein kann. Es würde also vielleicht auch auf den ZollÂbeamten wirken, der uns durchwinken soll. Und wenn nicht? Sind die Grenzposten über uns informiert? Werden wir auf der Fahndungsliste aufscheinen, wenn sie uns aus der Reihe herauswinken und kontrollieren?
Der Grenzbeamte erwidert mein sonniges Lächeln. Es ist ein glückliches Urlaubslächeln. Ich weiÃ, wie man so etwas produziert. Ich wäre als junges Mädchen gern Schauspielerin geworden. Die Kinder lächeln ebenfalls. Das gehört nicht mehr zum Drehbuch, ich will keine gedrillten Affen aus ihnen machen. Sie lächeln, weil der Beamte mit seinem Kollegen ein Gespräch beginnt und sich nicht mehr für uns interessiert.
In München überlässt uns Viktor der nächsten, ungewissen Etappe unserer Reise. âBist du sicher, dass ich euch nicht hinbringen soll?â, sagt er, und ich spüre seine Sorge.
âJa, Viktor, ich bin sicher. Der Platz, an dem Oskar jetzt lebt, muss geheim bleiben. AuÃer mir wird niemand erfahren, wo er sich aufhält. Ich bin seine Frau, ich darf die Aussage verweigern.â
5. Kapitel
11. Juli 1988
Ich werde den Namen des Ortes, an den wir jetzt zum ersten Mal fahren, niemals aussprechen. Ich habe ihn einmal gehört und dann sofort in der Tiefe meines Gedächtnisses versenkt. Lea und Niklas werden vielleicht manchmal ein Ortsschild sehen, an dem wir vorüberfahren, und es hoffentlich gleich wieder vergessen. Oskars Häuschen liegt nicht im Dorf. Es versteckt sich hinter hohen Büschen an einem Teil des Seeufers, der nicht öffentlich zugänglich ist. Auch den Namen des Sees werde ich nicht nennen. Er ist ein Kleinod, und die Bayern sind stolz auf ihn. Aber es gibt vieles, worauf sie stolz sind, das ist kein Kriterium, falls uns Âjemand sucht. Von nun an werden wir zum Papa an den See fahren, aber der wird namenlos bleiben. Keiner soll unsere Kinder nach ihm fragen können, Oskars Freiheit liegt in meiner Hand.
Die Jagdhütte ist ihm zugefallen, so, als hätte sie jemand für seine Zwecke gebaut. Sie gehört einer alten Frau, die vor vielen Jahren hier ihre Gäste untergebracht hat. Das kleine Haus stand leer, Oskar hat es auf einer seiner verzweifelten Irrfahrten durch Deutschland gefunden. Die Frau, die es ihm um ein Butterbrot vermietet, hat nicht nachgefragt, was dieser Fremde, der zu jung ist, um ein beschauliches Leben ohne Arbeit zu führen, hier will.
Mehr weià ich nicht.
Lilly seufzte und klappte ihr Tagebuch zu. Sie war mit den Kindern am Münchner Hauptbahnhof in die U-Bahn gestiegen und irgendwohin gefahren, es spielte keine Rolle. Nach zwei Stationen war sie wieder ausgestiegen, hatte ein Taxi genommen und eine Wohnadresse in der Nähe einer anderen U-Bahn-Station genannt. Die Adresse gehörte zu einem anonymen Wohnblock, der nach dem Zweiten Weltkrieg rasch in die Höhe gezogen worden und an ScheuÃlichkeit kaum zu überbieten war. Lilly klingelte pro forma irgendwo und sah aus den Augenwinkeln, dass das Taxi währenddessen wegfuhr. Chris hatte die Hintergrundlogistik für München vorbereitet. Sie stellte sich vor, dass der Polizist, falls ihnen einer gefolgt war, mit Funk die Kollegen verständigte.
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