Lillys Weg
â, und meine Muskeln sind hart vor Anspannung, mein Herz klopft bis zum Hals. Endlich. Das Telefon klingelt. Die Erlösung. Wir haben uns wieder. Auch wenn es nur für eine kleine Weile ist.
Heute weint Oskar. Es bricht mir das Herz. Aber ich darf nicht mitweinen, ich bin seine einzige Stütze, ich muss stark
sein. Er vermisst mich, er vermisst die Kinder, er ist einsam. Ich Âverspreche ihm, entgegen aller Vernunft, dass wir ihn besuchen kommen.
Besuchen?
Wo besucht man einen Mann, der auf der Flucht ist?
Unsere Bilder waren längst auch schon in deutschen Zeitungen. Wir können nicht mehr einfach durch fremde Städte spazieren.
9. Juli 1988
Oskar hat eine Zuflucht gefunden. In Bayern. Er muss verrückt geworden sein, dass er genau in dem Bundesland, von dem ihm alle abgeraten haben, eine Bleibe mietet. âIch kann nicht so weit weg von euch wohnen, das halte ich nicht ausâ, sagte er am Telefon.
Die Kinder haben Ferien, wir werden ihn besuchen.
Ralf verzichtet darauf, am Wochenende Chris zu sehen. Er bleibt in Wien und hilft mir bei meiner strategischen Planung. Wir brauchen einen Masterplan, wie ich sicher zu Oskar fahren kann. Unser Gepäck ist schon mit einem seiner Freunde unterwegs nach München. Meine alte Strategie, niemals mit einem Koffer das Haus zu verlassen, hat sich bewährt. Ich muss einen sicheren Weg für mich und die Kinder finden und auÃerdem die Meerschweinchen unauffällig versorgen. Ich konnte nicht Nein sagen, als die Kinder sie vor ein paar Tagen in einer Tierhandlung entdeckt haben. Ich stelle mir vor, wie der Staatspolizist vor meiner Tür den Alarm auslöst, wenn ich mich verdächtig mache, weil ich die Meerschweinchen wegbringe. Sind diese Beamten überhaupt so klug? Ich darf kein Risiko eingehen.
Unser Wochenende war kreativ, das Drehbuch ist fast fertig: Ich brauche ein schnelles, seriös aussehendes Auto und einen Fahrer dazu, der als Mann zu mir passen könnte, nach dem Motto âBürgerliche Familie fährt in die Sommerferienâ. So kommen wir am besten über die Grenze. Viktor fällt mir ein. Er ist Stammgast im Gläsernen Elefanten, Immobilienmakler und hat mir meine Wohnung verschafft. Ich vertraue ihm und weihe ihn in den Plan ein. Viktor ist ein Querdenker. Seine Vorträge am Tresen gegen das Establishment sind legendär. Ihn freut es, wenn er dem Staat eins auswischen kann. Seine Aufgabe ist klar. Er wird auf der Westautobahn bei der ersten Tankstelle auf mich warten. Aber wie kommen wir dorthin? Das ist der schwierigste Teil, und der ist noch immer ungeklärt.
Dann wird Lea plötzlich krank, sie hat Fieber. Ich bin entsetzt. Der ganze Plan zerstört. Ich kann sie nicht zurücklassen, das bricht mir das Herz: âMamaâ, sagt sie, âich fahre auf jeden Fall mit. Ich kann doch auch beim Papa krank sein.â
Das ist der Schlüssel! Mein Plan ist in ein paar Minuten fertig. Jetzt geht es nur noch um die Meerschweinchen.
Lilly betrat das Kinderzimmer und legte ihren Zeigefinger auf den Mund. Das war der Code, den sie sich schon vor langer
Zeit ausgemacht hatten. Besprochen hatten sie schon alles. Im Park â gestern um eine Uhrzeit, zu der es leicht war, allein zu sein. In der Dämmerung, wenn die Mütter das Spielzeug aus den Sandkisten einsammelten und sich auf den Nachhauseweg machten, war ihre Zeit für geheime Gespräche.
Sie schrieb mit ihren Fingern in ihrer Geheimsprache das Wort âProbeâ. Die beiden Kinder nickten. Sie wussten, dass es in der Wohnung Wanzen gab. Sie hatten längst gelernt, dass hier kein Ort war, an dem sie sicher waren, an dem sie ihre Ãngste, Sehnsüchte, Pläne und Geheimnisse besprechen durften.
Lea war mit ihren acht Jahren schon ziemlich schwer. Lilly merkte, wie sie bei der Probe ins Schwitzen kam. Es dauerte eine Weile, bis sie in ihren Armen eine Lage fand, die sie richtig krank aussehen lieÃ: Das Gesicht an ihre Schulter geschmiegt, den Körper so schlaff, als ob sie keine Kraft hätte, um selber zu gehen.
Niklas kannte seine Rolle. Er würde neben seiner Mutter gehen, während Lea im Pyjama, nur in eine Decke gehüllt, von Lilly zum Taxi getragen würde. Sie würde ihre Augen geschlossen halten, es ging ihr sehr schlecht, das konnte jeder sehen, der sie beobachtete. Vor allem die Männer in Zivil, die in ihrem unauffälligen Pkw in der Quergasse parkten, von der man das Haus gerade noch im
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