Lillys Weg
FuÃende aus dem Bett steigen konnten, aber sie war froh darüber, sie brauchte eine geschützte Höhle.
Den Kindern hatte Oskar, der inzwischen ein beeindruckendes handwerkliches Geschick entwickelt hatte, in einer Nische im Hauptraum, in dem neben einem bemalten Bauernschrank auch ein Herd und ein einfaches Spülbecken standen, Stockbetten gebaut. Das kleine Bad mit Dusche und Toilette roch etwas modrig, aber das war nur für Lilly mit ihrem überfeinen Geruchssinn so. Sie saÃen an dem einfachen Holztisch, die Kinder auf dem Schoà ihres Vaters, und er fütterte sie â es war inzwischen schon fast Mitternacht â mit Spaghetti und TomatensoÃe: âEin Löffel für die Lea, ein Löffel für den Niklas.â Lea, die so GroÃe, Vernünftige, genoss das Spiel und war endlich wieder Kind. Seit Oskar auf der Flucht war, gab es keine strengen Regeln mehr, wenn sie ihn trafen. Niemand musste ins Bett, weil es spät war, niemand musste sich um jeden Preis die Zähne putzen. Als die beiden in den Armen ihres Vaters mit verschmierten Mündern eingeschlafen waren, dachte Lilly an ihre Abreise heute Mittag. Es war, als ob ihre Fahrt ins Krankenhaus, mit Lea auf dem Arm, schon wieder weit in der Vergangenheit lag. Doch dann blieb ein einzelnes Bild von den vielen, die noch einmal vorüberzogen, stehen und trieb ihr die Tränen in die Augen: Es war kurz, bevor sie die Wohnung verlieÃen. Die Inszenierung sollte beginnen. Es war wichtig, dass alles echt aussah, falls ihnen jemand im Treppenhaus begegnete. Lea lag schon in ihrem Arm und hatte den Kopf vereinbarungsgemäà ermattet an ihre Brust gelegt. Doch dann verlieà sie ihre Rolle abrupt und sagte alarmiert: âMama, hast du unsere Pässe?â In welcher Welt waren sie gelandet? Es gab nur noch ein Kind. Und das war Niklas. Sie sah auf ihre schlafenden Gesichter, die jetzt ganz entspannt waren. Gut, dass es für fast acht Wochen so etwas Ãhnliches wie Normalität geben würde. Die schwierige Zeit mit den beiden tapferen Kleinen hatte auch ihre Verschiedenartigkeit zutage gebracht. Bei Lea, die schon als ganz kleines Kind stark und selbstbestimmt gewesen war, hatte sich diese Eigenschaft noch verstärkt. Sie dachte klar und strukturiert, beobachtete umsichtig das GroÃe, Ganze und hatte ständig alles im Auge, was geschah. Im Zweifelsfall stellte sie sich selber zurück. Sie schien keinen Wert darauf zu legen, âEverybodyâs Darlingâ zu sein, und lächelte nur dann, wenn es einen echten Anlass gab oder sie jemanden trösten wollte. Clarissa, ihre GroÃmutter, bevorzugte aus diesem Grund â doch sicher auch, weil er ein männlicher Erbe war â Niklas und nannte ihn âmein Sunnyboyâ. Er hatte wenig Interesse an Perspektiven. Für ihn zählte nur der Augenblick. Wenn man ihn fragte, was er essen wollte, sagte er meistens âweià nichtâ, weil er die Frage erst beantworten konnte, wenn er Hunger hatte. Er zeigte keine besonders ausgeprägten sozialen Züge, war aber so herzenslieb und charmant, dass das auch niemand von ihm erwartete. Er half brav im Haushalt, wenn man es von ihm verlangte, kam aber nicht freiwillig auf die Idee und wollte sich nicht über Probleme unterhalten. Ãhnlich wie in ihrem Charakter waren sie auch im Aussehen sehr unterschiedlich. Lea, mit ihrem kurzen Blondschopf, hatte die starken Haare ihrer GroÃmutter väterÂlicherseits. Niklas mit seinem glatten Haar, wie sein GroÃvater mütterlicherseits, hatte die Farbe seines Vaters, ein dunkles Braun, geerbt. Er konnte, weil er Veränderungen jeder Art nicht mochte, nur selten dazu überredet werden, zum Friseur zu gehen. So unterschiedlich sie auch waren, so sehr liebten die beiden einander. Es gab kaum Streit, aber vielleicht hatten sie auch keine Gelegenheit dazu, es gab genug Gefahren von auÃen.
30. Juli 1988
Es gibt zwei Wahrheiten. Die eine davon mag ich. Wir leben an einem paradiesischen Platz. Vor unserem Haus spielen Lea und Niklas auf einer groÃen Wiese Federball und FuÃball, meistens mit ihrem Vater. Ich liege währenddessen unter der Linde, die mich mit ihrem Duft an den Garten meiner Oma im Bregenzerwald erinnert, in einem rot gestreiften Liegestuhl und vergesse die Welt mit Büchern, die Ralf als Schundromane bezeichnen würde. Letizia, mit der ich mich gerne unterhalte, bringt sie mir aus der Bibliothek im Hauptort
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