Lillys Weg
mit und mischt manchmal Âunauffällig ein Hildegard-von-Bingen-Buch aus ihren eigenen Beständen dazu. Ich mag die Weisheiten dieser klugen Frau aus dem 12. Jahrhundert. Gleichzeitig genieÃe ich es, dass der literarische Anspruch meiner âSeelentrösterâ, wie Ralf sie immer nennt, auf einer Skala von null bis zehn bei unter Null liegt und dass es immer um dasselbe geht: Heldin findet nach Irrwegen Held. Das wichtigste daran ist für mich, dass die Geschichte gut ausgeht.
In der Ferne, nicht mehr in Ruf-, aber in Sichtweite, liegt das alte, bayerische Holzhaus mit dem groÃen Bauerngarten, in dem sich Blumen, Gemüse, Heilpflanzen und Küchenkräuter gegenseitig unterstützen, hilfreich zu sein. Das behauptet jedenfalls Letizia, die ihr Anwesen damals, als sie Hildegard-von-Bingen-Fastenkuren angeboten hat, âSeeruheâ nannte. Der weiÃe SchriftÂzug auf dem verwitterten Holz ist fast verblasst. Jetzt ist sie 70 und schenkt ihr Wissen nur noch her.
Letizias schlohweiÃes Haar ist zu einem Zopf geflochten, den sie am Hinterkopf aufsteckt. Ganz ähnlich geformte Zöpfe bäckt sie jeden Samstag aus selbst gemahlenem Dinkelmehl und bringt sie uns noch warm zum Frühstück. Wenn sie lebendig und mit jugendlichem Elan über die Wiese läuft, dann flattert ihr langer, naturfarbener Leinenrock um ihre Knöchel und ihre FüÃe stecken in braunen, runden, bequemen Gesundheitsschuhen. Aber am meisten bin ich von ihren unterschiedlichen Oberteilen fasÂziniert, die sie über einer weiÃen Bluse mit rundem SpitzenÂkragen trägt. Sie sind alle ebenfalls aus Leinen und in die Mitte hat Letizia ein rotes Herz oder eine bunte Blume oder einen Stern aus andersfarbenen Leinen genäht. Wenn die Touristen im Hauptort sie fotografieren, wundert sie sich immer. âIch bin eine gewöhnliche alte Frau, was gefällt denen an mir?â
Am Morgen, wenn ich in unserem Refugium erwache, schlendere ich im Bademantel zu dem kleinen Kieselstrand am See. Niemand sieht mich. Die öffentliche Badewiese ist weit weg. Ich steige nackt ins Wasser, und etwas in mir erinnert sich daran, dass dieses Leben in der Natur, so wie Gott mich erschaffen hat, ein vertrauter Zustand ist. In Mellau gibt es nur die Bregenzer Ache. Der groÃe See, der in der Vorarlberger Landeshymne besungen wird, war in meiner Kindheit viel zu weit weg. âMeor sand Burô, meor brûchod s Wássôr blos fùrs Vëahâ 09 , hatte meine Oma gesagt, wenn ich sie als Kind dazu überreden wollte, mit mir an den Bodensee zu fahren. Ich habe erst nach ihrem Tod von meiner Mutter erfahren, dass sie gar nicht schwimmen konnte und nicht einmal einen Badeanzug besaÃ. Jetzt ist der Neusiedlersee ein beliebtes Ausflugsziel für mich. Aber eben nur ein Ausflugsziel. Hier, an diesem Gewässer, dessen Name ungenannt bleibt, erfahre ich zum ersten Mal, dass es in mir eine tiefe Sehnsucht nach dieser Berührung des Wassers gibt, die jetzt gestillt wird. Es ist wie Samt auf meiner Haut und wäscht alle düsteren Gedanken weg. Meine Gebete werden von den Naturwesen gehört. Sie sind überall. In den kleinen Wellen, die zu mir sprechen, im Rauschen der Bäume, die am Ufer stehen, in den Steinen, die ich zum Haus trage und dort, unter der Linde, zu meinem Hausaltar lege. Mama und Ella waren schon immer so. Sie lebten, seit ich mich zurückerinnern kann, im Einklang mit der Natur. Nach ihrer Rückkehr in den Bregenzerwald hat meine Mutter ihre alten Gewohnheiten, die mein Vater als Hokuspokus bezeichnet hatte, wieder aufgenommen. Für mich war es damals zu spät. Ich wollte meine Loyalität zu meinem Papa nicht durch den spirituellen Unfug, wie er es nannte, gefährden, auch wenn mir das nicht bewusst gewesen war.
Jetzt trösten mich meine Naturverbundenheit und die Rituale, die ich liebe. Und wenn ich ganz still am Wasser stehe, kommen manchmal Nachrichten für mich. Das erste Mal, als die unsichtbaren Wesen zu mir sprachen, dachte ich, dass ich mir das nur einbilde, und Vaters Satz war da, noch ehe ich etwas dagegen tun konnte: âDu mit deiner blühenden Fantasie!â Er hatte es immer spöttisch gesagt, als ob es eine schlechte Eigenschaft wäre, die ich besser loswerden sollte.
Doch inzwischen höre ich auf sie, wenn sie zu mir sprechen. Ich brauche jemanden, der mich stützt. Oskar ist keine Stütze. Er lebt hier mit unseren Kindern wie
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