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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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gewesen.
    Sie war so in Gedanken versunken, dass sie erschrak, als der Fremde sie ansprach. Er hatte warme, mitfühlende Augen, und als er ihr den Koffer in die Hand drückte, spürte sie, wie ihr unter seinen aufmerksamen Blicken die Tränen kamen. Er war ein großer, etwas übergewichtiger Mann, und als er sie für einen Augenblick spontan in die Arme nahm, genoss sie seine Weichheit. Er wusste nicht, dass sie in den nächsten Minuten in eine U-Bahn um die Ecke steigen, wieder zum Hauptbahnhof zurückfahren und mit einem Regionalzug zum See fahren würden. Es war nur der Mann, der den Koffer brachte. Sie dachte für ­einen Augenblick voller Dankbarkeit an Ralf und Chris, die im Hintergrund die Fäden gezogen hatten.
    Lilly war nur einmal in Bayern gewesen. Auf der Insel Frauen­chiemsee mit Oskar. Sie dachte an den romantischen Abstecher auf einer ihrer Reisen in den Bregenzerwald und spürte, dass sie die Bilder, die hochstiegen, zurückdrängen musste: eine laue Nacht am See. Der kleine Steg vor dem Kloster liegt verlassen da, jetzt legen keine Segelboote, die vom Festland kommen, mehr an. Oskar hat seine Jacke ausgezogen und sie zärtlich um ihre Schultern gelegt. Sie liegt, mehr als sie sitzt, in seine Arme ge­kuschelt, und er singt ein russisches Wiegenlied für sie, das er von einer seiner vielen Reisen mitgebracht hat. Wenn man sagt, dass einem schöne Erinnerungen niemand wegnehmen kann, so stimmte das auch für Lilly. Aber niemand hatte ihr erzählt, dass sie auch an ihrem wunden Herzen scheuerten.
    Eigentlich liebte sie es, Zug zu fahren. Sie mochte es, wenn die Landschaft so schnell vorüberzog und ein Bild dem nächsten die Hand gab. Doch heute hatte sie kein Auge dafür und war genervt von Leas und Niklas’ Spiel, mit dem sie sich die Zeit vertrieben: „Ich sehe etwas, was du nicht siehst …“ Sie ging im Kopf jedes Detail ihres Plans durch, der erst aufgegangen war, wenn sie sicher bei Oskar angekommen waren, und rieb ihre Hände aneinander, um das Jucken ihres Ausschlags zu lindern.
    Der Bahnhof der Kreisstadt lag am Südende des Sees, und Lilly wusste, dass der kleine Ort, in dem Oskar lebte, eine halbe Stunde südöstlich davon lag. Sie nahm ein Taxi und fuhr zu einer Adresse, ausreichend weit davon entfernt, um keine Spur zu legen. Es war ein ehemaliger Bauernhof, der, durch einen Güterweg erreichbar, zwischen zwei Orten lag. Die Besitzer hatten ihn zu einer zünftigen Wirtschaft mit Biergartenatmosphäre um­gebaut. Die letzten Gäste waren schon von der Wiese in den einfachen Gastraum übersiedelt, weil der See feuchte Nachtluft auf ihre Sitzkissen gelegt hatte. Es war gut so. Sie folgte weiter Oskars Anweisungen und ging, als die Rücklichter des Taxis in der Ferne verschwunden waren, den Güterweg zurück bis zur Hauptstraße. Lilly mit ihrem unauffälligen, grauen Koffer und einer Taschenlampe in der Hand, Lea und Niklas dicht neben sich. Sie lächelte einen Augenblick und dachte an Ralfs Ent­setzen, als sie bei ihrer ersten Aktion mit ihrer edlen, braunen Wildlederreisetasche, die er heimlich zum Bahnhof bringen sollte, ins Büro gekommen war. Das war immer so. Wenn sie besonders angespannt war, tauchten harmlose, erfreuliche Bilder auf, die sie für einen Augenblick aufheiterten. Als pubertierende ­Jugendliche hatte ihr Vater immer zu ihr gesagt: „Du verkennst den Ernst der Lage.“ Aber Lilly hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. Sie hatte schon als Kind gelernt, dass es manchmal besser war, sich aus der Realität ein Stück zu entfernen.
    Und dann war er endlich da. Oskar, den sie nach ihrer Ankunft am See aus einer Telefonzelle angerufen hatte, sprang aus einem alten, rostigen Range Rover, der Letizia, seiner Vermieterin, gehörte, umarmte seine Frau und seine beiden Kinder, und für ­einen Augenblick war alles wieder gut. Sie waren wieder zusammen und alle Strapazen der Reise waren vergessen.
    Das alte Jagdhaus aus Holz hatte grüne Fensterläden mit ­ausgeschnittenen Herzen. Es war klein, kaum mehr als fünfzig Quadratmeter groß, aber sehr gemütlich. Letizia, die aus dem Tessin stammte, hatte ihrem Mieter ein paar italienische Lampen geliehen, die bei ihr auf dem Speicher verstaubten, und ein altes Doppelbett aus Birkenholz in die Kammer gestellt, in der Lilly und Oskar schlafen würden. Der Raum war so klein, dass sie nur am

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