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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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auffällig sind. Wir müssen weiter. Niklas beginnt zu weinen und wirft sich auf die Erde. Er will und kann nicht mehr. Sein Vater versteckt sein Fahrrad irgendwo am Weg im Gebüsch, er wird morgen zurückkommen, um es zu holen, und nimmt ihn Huckepack. Wir müssen immer wieder stehen bleiben, weil er sich nicht so lange anklammern kann und abrutscht. Lea schweigt. Sie fährt zäh und tapfer vor sich hin. Ich streichle und lobe sie. Aber ich weiß, dass sie todmüde ist und wir einen Fehler gemacht haben.
    Ein Spruch, dessen Urheber ich vergessen habe, taucht auf: „Alle Eltern fügen ihren Kindern Schäden zu. Sie sind wie eine Impfung, die der Lebensertüchtigung dienen.“ Ich nehme ihn und werfe ihn in meinen virtuellen Mistkübel. Was für ein Schrott! Ich wünschte, ich wäre eine achtsamere Mutter. Manchmal bin ich selber wie ein egoistisches Kind. Ich kann mir nicht verzeihen, dass ich Lea und Niklas diese Strapaze zugemutet habe. Und was ist mit Oskar? Er ist vierzehn Jahre älter als ich. Er könnte doch auch derjenige sein, der vernünftig ist! Ärger flammt in mir hoch. Aber nur für eine Sekunde. Negative Gefühle sind nicht erlaubt, die Zeit ist zu kostbar.
    Am nächsten Tag liegen Lea und Niklas im Bett. Ich mache ihnen Zitronentee und Essigsocken. Sie haben sich erkältet und fiebern. Ich bete, dass sie ohne Arzt gesund werden, wir können uns nicht leisten, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Wort „ausgestoßen“ taucht auf. Ich zerlege es in zwei Teile und sehe vor mir, wie wir, die wir bis vor Kurzem zur sogenannten „guten Wiener Gesellschaft“ gehört haben, aus diesem Kreis hinausgestoßen wurden. Oskar, weil er in dubiose Geschäfte ver­wickelt ist, ich, weil ich seine Frau bin.
    Ich denke daran, wie ich in der Zeitung von anderen Frauen gelesen habe, deren Männer eines Verbrechens beschuldigt werden. Ich habe mir keine großen Gedanken über sie gemacht. Ich habe mich nicht gefragt, wie es ihnen und ihren Kindern ergeht in diesem fremdbestimmten Leben. Man kann sich von dem Mann, den man liebt, abwenden oder sich dem alten Sprichwort fügen: „Mitgehangen, mitgefangen.“
    Letizia kommt immer häufiger zu uns. Sie bringt selbst ­ge­backenen Obstkuchen mit, bleibt zum Kaffee und bittet
­Oskar manchmal um einen kleinen Gefallen. Gestern war er wieder einmal in ihrem alten Holzhaus. Er musste Sieben­schläfer, die sich ein Nest hinterm Kühlschrank gebaut hatten, aus der Küche vertreiben, und Lea und Niklas durften zu-­
sehen.
    Je öfter sie uns besucht, desto schwieriger wird es, die Wahrheit vor ihr zu verbergen. Und was, wenn sie eines Tages Zeitung liest und unser Foto sieht? Sie hätte allen Grund, uns anzuzeigen oder uns zumindest als Verräter von ihrem Grund zu jagen. Im ­Augenblick gibt es keinen konkreten Anlass, dass wir in der Zeitung stehen, aber das kann sich täglich ändern.
    Einmal in der Woche fahre ich mit ihr zu einem der großen Supermärkte im Niemandsland. Sie freut sich, dass ich sie beim Einkaufen begleite, und bleibt am Weg immer bei einem Bauern stehen und wir kaufen Gemüse, Eier, Käse und geräucherte Würste. Brot brauchen wir keines. Sie bäckt, seit wir bei ihr sind, statt einmal zweimal in der Woche und versorgt uns mit ihrem köstlichen Dinkelbrot nach einem Rezept von Hildegard von Bingen.
    In der Nacht schlafe ich mit Oskar. Er ist ausgehungert, und ich gebe ihm, was er braucht. Manchmal spiele ich ihm einen Orgasmus vor. Ich habe die Frauen nie verstanden, die ihren Körper zu einer Lüge zwingen. Jetzt weiß ich, warum wir Frauen das tun. Mein Herz lässt es nicht zu, Nein zu sagen. Ich weiß, dass die Einsamkeit ihn wieder auffressen wird, wenn wir weg sind. Er muss jede einzelne seiner Zellen mit meiner Liebe auffüllen. Jetzt, solange ich noch da bin.
    Mir fällt auf, wie unterschiedlich Oskar und ich sind. Nicht nur unsere Persönlichkeiten. Das weibliche Gehirn tickt ganz offensichtlich anders. Meine Libido rauscht in den Keller, wenn ich im Stress bin. Mein Wunsch nach Zärtlichkeit und körperlicher Nähe wird sofort blockiert, wenn dunkle Wolken am Horizont auftauchen. Es sei denn, ich kann in Ausnahmesituationen aus mir heraus und in den Augenblick treten. Doch jetzt ist Alltag. Auch wenn es ein geliehener Alltag ist. Oskar ist viel robuster. Er muss eine dunkle

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