Lily und der Major
es war, der ihr keinen Blick schenkte und
grußlos an ihr vorbeiging.
Sein Verhalten flößte ihr Unbehagen
ein. Vor knapp einer Stunde hatte er ihr noch befohlen, in sein Haus zu ziehen,
und jetzt das! Unwillkürlich ging Lily schneller, als könnte sie sich auf diese
Weise von ihren widersprüchlichen Gefühlen für Caleb distanzieren.
Sie verspürte ein eigenartiges
Prickeln im Nacken, als sie sich ihrem Häuschen näherte, das direkt gegenüber
der Schule lag. Die Kinder spielten lärmend in der warmen Sonne, und Lily mußte
lächeln, doch ihr Unbehagen vertiefte sich, als sie zu ihrem Haus
hinüberschaute.
Irgend etwas stimmte nicht.
Sie trug ihre Einkäufe durch die
Vordertür und schaute sich im Zimmer um, warf sogar einen prüfenden Blick unter
ihr Bett, bevor sie die Tür zuzog. Aber erst, als sie den Einkaufskorb auf dem
Tisch abstellte und zum Fenster ging, sah sie, was geschehen war.
Die Wäscheleinen lagen auf dem
Boden; Hemden und Hosen waren in den Schmutz getreten. Die ganze Arbeit eines
Tages war kaputtgemacht worden.
Lily weinte nicht, aber nur, weil
sie so zornig war. Sie trat durch die Hintertür auf den kleinen Hof. Ihr
Waschkessel war umgestoßen worden, das Waschpulver lag darauf verstreut wie
dicke Flocken Schnee.
Ihre Augen brannten, aber sie
drängte die Tränen zurück und biß sich auf die Unterlippe. Velvet und ihre
Bande waren sehr weit gegangen, um sie aus dem Geschäft zu drängen, aber zum
Weinen bringen würden sie Lily nicht.
Resolut schürzte sie ihre Röcke und
machte sich daran, den ursprünglichen Zustand ihrer kleinen Wäscherei wieder
herzustellen.
Als das geschehen war, ging Lily
hinein, wusch ihr Gesicht, bürstete ihr Haar und steckte es wieder auf, band
eine frische Schürze um und machte sich auf den Weg nach Suds Row. Zu wütend,
um sich durch die kalten Blicke der zerlumpten Kinder und die grimmigen
Gesichter ihrer Mütter einschüchtern zu lassen, blieb Lily vor einem
altersschwachen Zaun stehen. »Wo lebt Velvet Hughes, bitte?« erkundigte sie
sich gereizt.
Ein Frau, die gebückt vor einem
Waschbrett stand, brach ihre Arbeit ab und schaute Lily böse an.
Mit unverhohlener Verachtung glitten ihre Blicke über Lilys gepflegtes Haar
und ihr makellos sauberes Kleid. »Dort«, antwortete sie mürrisch und deutete
auf eine verfallene Hütte.
»Danke«, sagte Lily, schürzte ihre
Röcke und ging auf Velvets Tor zu.
Sie hatte das armselige Häuschen
noch nicht ganz erreicht, als Velvet in der Tür erschien. Ihre Hände ruhten auf
ihren breiten Hüften, ihre Augen waren schmal. »Was wollen Sie?« fuhr sie Lily
an.
Lily sah, daß ein halbes Dutzend
anderer Suds-Row-Frauen sie von ihren Höfen aus beobachteten. »Sie haben meine
Wäsche von der Leine gerissen und sie in den Schmutz getreten«, beschuldigte
sie Velvet. »Ich kam her, um Ihnen zu sagen, daß das nicht reichen wird, um
mich aus Fort Deveraux zu vertreiben.«
Velvet ging langsam auf Lily zu.
»Ich habe mich Ihrem Haus nach unserem Gespräch nicht mehr genähert«, sagte sie
gefährlich leise.
Obwohl Lily bewußt war, daß Velvet
sie in einer handgreiflichen Auseinandersetzung mühelos besiegen würde,
verspürte sie keine Furcht. Um es Velvet zu beweisen, trat sie noch näher auf
sie zu.
»Sie lügen.«
Die Wäscherin machte Anstalten, sich
auf Lily zu stürzen, aber da rief jemand: »Velvet – sie ist die Geliebte des
Majors!« Das schien Velvets Angriffslust zu bändigen.
Aber nun war es Lily, die vor Wut
rot sah. »Das ist nicht wahr!« rief sie und umfaßte all diese
heruntergekommenen, verbitterten Frauen mit einem Blick. »Ich gehöre keinem
Mann, und Sie brauchen es auch nicht.«
Schweigen folgte ihren Worten, bis
Judd Ingram in der Tür von Velvets Haus erschien. Er trug kein Hemd und keine
Schuhe, sein schütteres braunes Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. »Komm herein,
Frau«, sagte er zu Velvet. »Sofort.«
Velvet warf ihm einen trotzigen
Blick zu, aber Lily sah, daß sie schon schwankte. »Ich habe Ihre verdammte
Wäsche nicht angefaßt«, fuhr sie Lily an, dann drehte sie sich um und betrat
folgsam das Haus.
Lily war
speiübel, als sie weiterging.
Zu Hause wusch sie die ganze Wäsche
noch einmal, und als sie trocken genug zum Bügeln war, herrschte draußen schon
tiefste Finsternis.
9
Velvet spürte Judd Ingrams Blicke, als sie an jenem
verregneten Aprilmorgen aus dem Bett stieg und ihren alten Morgenrock überzog.
Sie trat vor den halbblinden Spiegel an der Wand und musterte
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