Lily und der Major
wann Sie gehen wollen, Miss Lily. Alles andere erledige ich.«
Lily drückte dankbar seine Hand.
Wilbur war ihr sympathisch, und deshalb mußte sie sich bemühen, keinen
falschen Eindruck bei ihm zu erwecken. Es lag ihr fern, ihm Hoffnungen zu
machen, doch es war wichtig, daß Caleb sie die Party am Arm eines anderen
Mannes verlassen sah.
Und je skandalöser Caleb ihr
Verhalten empfinden mochte, desto besser.
Es klopfte, und als Wilbur
hinausging, um zu öffnen, suchte Lily die Küche auf.
Dort stand Sandra, das Gesicht in
einem Küchentuch verborgen, und schluchzte herzzerreißend.
»Was ist, Sandra?« fragte Lily und
legte einen Arm um sie. »Ich will nicht fort!« heulte Sandra.
»Dann bleib«, entgegnete Lily sanft.
Sandra ließ das Handtuch sinken.
»Ich habe mich verliebt«, verkündete sie dramatisch. Ihre schönen
veilchenblauen Augen waren gerötet und geschwollen, ihre hübsche kleine Nase
glühend rot.
»In Caleb?« fragte Lily mit
sinkendem Herzen.
Doch Sandra schüttelte den Kopf.
»Nein, nein. Es ist Lieutenant Costner, den ich liebe, und er will mich
heiraten.«
»Warum weinst du dann?« versetzte
Lily und schämte sich ihrer maßlosen Erleichterung.
»Onkel John will es nicht gestatten.
Er sagt, ich sei zu impulsiv und hätte es mir nicht gründlich überlegt.«
Der Colonel hatte vermutlich recht,
aber Sandra tat Lily trotzdem leid. »Dann bleib doch einfach. Dann wirst du
schon merken, ob deine Gefühle für den Lieutenant echt sind.«
Sandra tupfte mit dem Geschirrtuch
über ihre Augen. »Dazu bleibt mir keine Zeit mehr, Lily«, flüsterte sie
bekümmert. »Ich glaube, ich erwarte ein Kind.«
Lily war schockiert, aber sie sagte
nichts, um Sandra zum Weitererzählen zu ermutigen.
»Es ist in der Nacht des Balls
geschehen. Wir gingen in sein Zimmer und ... und ...« Sandra
begann wieder zu weinen.
»Das ist doch noch gar nicht so
lange her«, wandte Lily ein. »Wie willst du wissen ...«
»Ich hätte meine Periode haben
müssen«, unterbrach Sandra sie verzweifelt. »Aber sie kam nicht!«
Lily seufzte. »Vielleicht solltest
du es lieber deiner Tante sagen«,
schlug sie vor, aber Sandra schüttelte wild den Kopf. »Nein, das kann ich nicht
– nach allem, was passiert ist.«
»Ich glaube nicht, daß dir etwas anderes
übrigbleibt.«
»Sag du es ihnen!« rief Sandra flehend. »Sie mögen dich. Sie werden es verstehen, wenn du mit
ihnen darüber sprichst.« Doch Lily schüttelte den Kopf. »Es ist deine Sache,
Sandra, es ihnen zu erzählen. Aber ich
schicke deine Tante zu dir herein, wenn du willst.«
Sandra holte tief Atem, dann nickte
sie entschlossen. »Gut.« Lily suchte Mrs. Tibbet, und als diese zu Sandra
gegangen war, mischte Lily sich wieder unter die Gäste.
»Der Regen hat nachgelassen, Miss
Lily«, meinte Wilbur, als er zu ihr zurückkam.
»Vielleicht sollten wir uns jetzt
auf den Weg machen, wenn Sie immer noch zur Suds Row wollen.«
Lily nickte zustimmend, und bevor
sie sich noch von ihren Gastgebern verabschieden konnte, brachte Wilbur ihren
Umhang.
Caleb stand auf der Veranda und sah Lily nach. Er hatte die vom
Colonel empfohlene Taktik angewandt und war mit dem Ergebnis sehr zufrieden
gewesen – bis er Lily mit Corporal Pierce das Haus verlassen sah.
Am liebsten wäre Caleb ihnen
nachgerannt, aber er wußte, daß das nicht sehr geschickt gewesen wäre.
Schließlich wollte er nicht vor allen Leuten wie ein Narr dastehen.
Bedrückt wandte er sich zur Tür
zurück, wo er beinahe mit Mrs. Tibbet zusammenstieß.
»Da bist du ja«, rief sie atemlos
und fächelte sich Luft zu. »Gott, wie heiß es da drinnen ist mit all den
Leuten!«
Caleb lächelte und blieb stehen. Aus
Erfahrung wußte er, daß Gertrude mit ihm reden wollte.
»Wo ist Lily?« fragte sie.
Caleb zuckte die Schultern. »Woher
soll ich das wissen?«
»Ich wette, das weißt du sehr genau, Caleb
Halliday.«
Er lachte wehmütig. »Ich habe sie
mit Corporal Pierce fortgehen sehen.«
Gertrude runzelte die Stirn, aber
dann schmunzelte sie belustigt. »Sie hat dich die ganze Zeit beobachtet,
Caleb, jedesmal, wenn sie glaubte, daß du nicht in ihre Richtung sahst.«
Calebs trübe Stimmung besserte sich
sofort. »Worüber wolltest du mit mir reden?« fragte er Mrs. Tibbet.
Gertrude seufzte. »Sandra scheint
nun doch nicht nach Fox Chapel zurückzukehren. Sie hat sich in Robert Costner
verliebt.«
»Ich verstehe«, erwiderte Caleb
unverbindlich. Er wünschte Sandra alles Glück der Welt, aber er hatte
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