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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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fokussierte das Bild auf die Größe eines gängigen Flachbildschirms, sodass es trotz des einfallenden Sonnenlichts genug Brillanz besaß, und startete die erste Abspielung.
    Tu Tian hatte recht gehabt.
    Nein, er hatte untertrieben! Yoyo war nicht nur hübsch, sie war von außergewöhnlicher Schönheit. Während seiner Zeit in London hatte Jericho sich mit unterschiedlichsten Theorien über das Wesen der Schönheit vertraut gemacht: Symmetrie der Gesichtszüge, Ausprägung besonderer Merkmale wie Augen oder Lippen, Proportionierung des Schädelbaus, Anteil des Kindchenschemas. In der psychologischen Verbrechensbekämpfung wurde mit solchen Studien gearbeitet, außerdem dienten sie als Grundlage, um Menschen auf die Spur zu kommen, die sich mit virtuellen Persönlichkeiten tarnten. Moderne Studien gelangten zu dem Resultat, die perfekte weibliche Schönheit weise sich durch große, rundliche Augen und eine hohe, leicht gewölbte Stirn aus, während die Nase schmal und das Kinn klein, aber markant zu sein hatten. Bearbeitete man Frauengesichter in einem Morphing-Programm und fügte ihnen einige Prozent Kindchenanteil hinzu, schnellte der Grad der Zustimmung bei Männern spontan in die Höhe. Volle Lippen schlugen schmale Münder, eng zusammenstehende Augen verloren gegen auseinanderliegende. Die perfekte Venus besaß hohe Wangenknochen, schmale, dunkle Brauen, lange Wimpern, volles, glänzendes Haar und einen gleichmäßigen Haaransatz.
    Yoyo war all dies – und nichts davon.
    Chen hatte sie während eines Auftritts gefilmt, in irgendeinem schlecht beleuchteten Club, flankiert von Musikern, die möglicherweise Männer waren. In diesen Tagen pflegten männliche Jugendliche einen zunehmend androgynen Stil und trugen die Haare gürtellang. Wer im Mando-Prog etwas gelten wollte, dem blieb allenfalls die Option, sich kahl scheren und die Schädeldecke applizieren zu lassen. Kurze Haare galten als indiskutabel. Ebenso gut konnten es Avatare sein, die sich da über Gitarre und Bass beugten, holografische Simulationen, wenngleich der Aufwand immens war. Nur sehr erfolgreiche Musiker leisteten sich Avatare, so wie zuletzt der amerikanische Rapper Eminem, der es mit über fünfzig noch mal hatte wissen wollen und etliche Versionen seiner selbst auf die Bühne projizieren ließ, die das Instrumentarium bedienten, tanzten und sich leider sämtlich durch höhere Beweglichkeit auswiesen als der Meister persönlich.
    Doch verlor all dies – Geschlecht, Fleisch und Blut, Bits und Bytes – an Bedeutung neben der Sängerin. Yoyo hatte das Haar straff zurückgekämmt und im Nacken zu vier Zöpfen geflochten, die bei jeder Bewegung hin und her schwangen. Ihre Motorik war verschwenderisch und kraftvoll. Sie intonierte die Coverversion irgendeines uralten Shenggy-Songs. Soweit es die mäßige Aufnahmequalität des Handys erahnen ließ, verfügte sie über eine gute, wenn auch nicht bemerkenswerte Stimme. Und obwohl das schlechte Licht sie nur ungenügend in Szene setzte, sah Jericho doch genug, um zu wissen, dass sie vielleicht die schönste Frau war, die er in den 38 Jahren seines Lebens zu Gesicht bekommen hatte. Nur dass Yoyos Art, schön zu sein, sämtliche Theorien, was schön sei, über den Haufen warfen.
    Das Bild wurde vorübergehend unscharf, als Chen versuchte, seine Tochter heranzuzoomen. Dann füllten Yoyos Augen den Bildschirm – ein Blick wie Samt, schmale Augenlider, Vorhänge aus Wimpern, die sich herabsenkten und schnell wieder hoben. Die Kamera wackelte, Yoyo geriet aus dem Blickfeld, dann brach die Aufnahme ab.
    »Sie singt«, sagte Chen, als bedürfe es dessen. Jericho spielte den nächsten Film ab. Er zeigte Yoyo in einem Restaurant, Chen gegenübersitzend, das Haar offen. Sie blätterte in einer Speisekarte, dann bemerkte sie die Kamera und lächelte.
    »Was soll das denn jetzt?«, sagte sie.
    »Ich sehe dich zu selten«, antwortete Chens Stimme. »So habe ich dich wenigstens als Konserve.«
    »Ah! Yoyo in der Dose.«
    Sie lachte. Dabei bildeten sich unter ihren Augen zwei quer stehende Falten, die in den Schönheitsszenarien der Psychologen nicht vorkamen und die Jericho höchst aufregend fand.
    »Außerdem kann ich so mit dir angeben.«
    Yoyo schnitt ihrem Vater eine Grimasse. Sie begann zu schielen.
    »Nicht«, sagte Chens Stimme.
    Die Aufnahme endete. Der dritte Film zeigte wieder das Restaurant, offenbar zu einem späteren Zeitpunkt. Musik mischte sich in den Lärm. Im Hintergrund eilten Kellner zwischen voll

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