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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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besetzten Tischen hindurch. Yoyo zog an einer Zigarette und balancierte einen Drink in ihrer Rechten. Sie öffnete die Lippen und ließ einen dünnen Schwaden Rauch entweichen. Während der ganzen Aufnahme sprach sie kein einziges Wort. Ihr Blick ruhte auf ihrem Vater. Liebe lag darin und eine merkwürdige Traurigkeit, sodass Jericho sich nicht gewundert hätte, Tränen aus ihren Augen fließen zu sehen. Doch nichts dergleichen geschah. Yoyo senkte nur von Zeit zu Zeit die Lider, als wolle sie, was sie sah, mit ihren schweren Wimpern wegwischen, nippte an ihrem Drink, zog an der Zigarette und blies Rauch aus.
    »Ich werde diese Aufnahmen brauchen«, sagte Jericho.
    Chen stemmte sich aus seinem Sessel, den Blick weiterhin auf die nun leere Wand gerichtet, als sei dort immer noch seine Tochter zu sehen. Seine Züge schienen starrer denn je. Und doch wusste Jericho, ohne Kenntnis der Umstände, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen dieses Gesicht von Qual verzerrt gewesen war. In London hatte er ähnliche Gesichter gesehen. Opfer. Angehörige von Opfern. Täter, die Opfer ihrer selbst wurden. Was immer Chen hatte versteinern lassen, er hoffte inständig, weit weg zu sein, sollte sich diese Starre jemals lösen. Was dann zum Vorschein käme, wollte er um nichts in der Welt sehen.
    »Sie können noch mehr haben«, sagte Chen tonlos. »Yoyo lässt sich gerne fotografieren. Aber viel besser sind die Filme. Nicht diese hier. Yoyo hat für Tian Aufnahmen als virtuelle Fremdenführerin gemacht. In hoher Auflösung, wie sie mir sagte. Tatsächlich, wenn Sie mit so einem Programm durch das Museum der Stadtplanung gehen oder durch das Auge des World Financial Centers, scheint sie leibhaftig anwesend zu sein. Ich habe einiges davon zu Hause, aber Tian kann Ihnen sicher besseres Material an die Hand geben.« Er stockte. »Vorausgesetzt natürlich – Sie erklären sich bereit, Yoyo für mich ausfindig zu machen.«
    Jericho griff nach seinem Becher, betrachtete die verbliebene Pfütze erkalteten Kaffees und stellte ihn wieder zurück. Helles Sonnenlicht erfüllte das Zimmer. Er betrachtete Chen und wusste, sein Besucher würde kein zweites Mal fragen.
    »Ich werde mehr brauchen als die Filme«, sagte er.
     

JIN MAO TOWER
     
    Zur gleichen Zeit näherte sich eine japanische Kellnerin dem Tisch von Kenny Xin, ein Tablett mit Sushi und Sashimi vor sich her tragend. Xin, der sie aus den Augenwinkeln herannahen sah, unterließ es, sich ihr zuzuwenden. Sein Blick ruhte auf dem blaugrauen Band des Huangpu 300 Meter unter ihm. Der Fluss war um diese Zeit dicht befahren. Dschunkenartige Lastkähne, zu Ketten aneinandergekoppelt, folgten seinem Verlauf wie träge Wasserschlangen, schwere Frachter hielten auf die Docks östlich der Biegung zu. Zwischen ihnen drängten sich Fähren, Wassertaxis und Ausflugsboote auf ihrer Tour zur Yangpu-Brücke und den Kränen der Entladestellen, vorbei am idyllischen Gongqing-Park bis hin zur Mündung, wo sich die öligen Fluten des Huangpu in trübem Farbspiel mit dem Schlammwasser des Yangzi mischten und ins ostchinesische Meer verteilten.
    Dem scharfen, fast spitzwinkligen Rechtsverlauf des Flusses verdankte es sich, dass Shanghais Finanz- und Wirtschaftsdistrikt Pudong wie auf einer Halbinsel dalag und Panoramablicke auf die Uferstraße Zhongshan Lu mit ihren kolonialen Banken, Clubs und Hotels gestattete: Relikte aus der Zeit nach den Opiumkriegen, als die europäischen Handelsriesen das Land unter sich aufgeteilt und begonnen hatten, ihrer Macht am Westufer des Flusses Denkmäler zu errichten. Vor über einhundert Jahren mussten diese Bauten alles Umliegende an Pracht und Größe überragt haben. Jetzt wirkten sie wie Spielzeug gegen die stalagmitische Auftürmung aus Glas, Stahl und Beton, die sich dahinter erstreckte, durchzogen von Highways, Magnetbahnen und Skytrains, umschwirrt von Flugmobilen, insektoiden Minikoptern und Cargo-Blimps. Obwohl das Wetter ungewohnt klar war, ließ sich kein Horizont ausmachen. Shanghai löste sich im Dunst auf, diffundierte an seinen Rändern und wurde eins mit dem Himmel. Nichts ließ darauf schließen, dass es jenseits der Bebauung etwas anderes gab als noch mehr Bebauung.
    Xin schaute auf all das, ohne die Frau, die das Sushi vor ihn hin stellte, der Notiznahme zu würdigen. Seine Konzentration war unteilbar, und soeben konzentrierte er sich auf die Frage, wo in dem 20-Millionen-Moloch das Mädchen stecken mochte, das er suchte. Zu Hause war sie jedenfalls

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