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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Schriftstellerin zu werden.«
    »Sie beschloss, die Welt zu verändern. Einerseits romantisch motiviert, andererseits mit bewundernswert klarem Blick für die Wirklichkeit. Etwa zu dieser Zeit begann mein eigener Aufstieg. Chen Hongbing kannte ich aus den Neunzigern, ich mochte ihn sehr, und er vertraute mir seine Tochter an, weil er glaubte, bei mir könne sie was lernen. Yoyo hatte immer schon ein Faible für Virtualität, sie lebte praktisch im Internet. Was sie besonders interessierte, war die Auflösung zwischen der tatsächlichen und der künstlichen Welt. 2018 wurde ich Vorstand von Dao it, während Yoyo ihr Studium in Angriff nahm. Chen unterstützte sie, so gut es ging, aber sie legte Wert darauf, eigenes Geld zu verdienen. Als sie hörte, dass ich die Abteilung Virtual Environments übernahm, löcherte sie mich, ihr da einen Job zu verschaffen.«
    »Was hat sie überhaupt studiert?«
    »Journalistik, Politik und Psychologie. Das eine, um Schreiben zu lernen, das andere, um zu wissen, worüber. Und Psychologie –«
    »Um ihren Vater zu begreifen.«
    »Sie selbst würde es anders ausdrücken. In ihren Augen ist China ein Patient in ständiger Gefahr, dem Irrsinn zu verfallen. Also sucht sie nach Diagnosen für die Erkrankung unserer Gesellschaft. Und da kommt natürlich Chen Hongbing ins Spiel.«
    »Ihr Rüstzeug hat sie bei dir erhalten«, sinnierte Jericho.
    »Rüstzeug?«
    »Klar. Wann hast du Tu Technologies gegründet?«
    »2020.«
    »Und Yoyo war von Anfang an dabei?«
    »Natürlich.« Tus Miene erhellte sich. »Ach so.«
    »Sie schaut euch seit Jahren über die Schulter. Ihr entwickelt Programme für alles Mögliche.«
    »Mir ist schon klar, welche Rolle wir bei den Wächtern spielen, ungewollt natürlich! Darüber hinaus kann ich dir versichern, dass keiner meiner Leute auch nur im Traum auf die Idee käme, eine Dissidentin technologisch aufzurüsten.«
    »Chen erwähnte, man habe sie mehrmals festgenommen.«
    »Eigentlich hat sie erst während des Studiums begriffen, in welchem Ausmaß die Behörden das Internet zensieren. Für jemanden, der das Netz als seinen natürlichen Lebensraum betrachtet, sind verschlossene Türen etwas enorm Frustrierendes.«
    »Sie machte Bekanntschaft mit Diamond Shield.«
    Jeder, der auf chinesischen Datenautobahnen Gas gab, fand sich vor virtuellen Straßensperren wieder. Anfang des Jahrtausends hatte die Partei in ihrer Angst, das neue Medium könne brisante Themen beleuchten, ein hochgerüstetes Programm zur Netzzensur entwickelt, Golden Shield, dem 2020 der Diamond Shield folgte. Mit seiner Hilfe wühlten sich über 150.000 Internet-Polizisten durch Chaträume, Blogs und Foren. War Golden Shield ein Spürhund gewesen, der noch die hintersten Winkel des Netzes nach Begriffen wie Tian'anmen-Massaker, Tibet, Studentenrevolte, Freiheit und Menschenrechte durchschnüffelte, konnte Diamond Shield bis zu einem gewissen Grad Sinnzusammenhänge in Texten erkennen. Damit reagierte die Partei auf sogenannte Bodyguard-Programme. Die Titanmaus etwa hatte es nach ihrer Freilassung verstanden, kritische Texte ins Netz zu setzen, in denen kein einziges Wort mehr vorkam, auf das Golden Shield ansprang. Dafür hatte sie sich eines Bodyguard-Programms bedient, das ihr beim Schreiben sozusagen auf die Finger schlug – tippte sie verfängliche Begriffe ein, löschte der Bodyguard diese und schützte sie vor sich selbst. Als Folge achtete Diamond Shield weniger auf Schlüsselwörter, sondern bilanzierte ganze Texte, verknüpfte Redewendungen und Bemerkungen, sichtete die Einträge auf Doppeldeutigkeiten und Codierungen und schlug Alarm, wenn Subversion zu vermuten stand.
    Ironischerweise verdankten sich ausgerechnet diesem Zerberus epochale Fortschritte in der Hackerszene, um mit einem Minimum an Risiko ein Maximum an Kritik loszuwerden. Allerdings blockierte Diamond Shield auch Suchmaschinen und Seiten ausländischer Nachrichtenagenturen. Alle Welt hatte das Attentat auf Kim Jong-un und den Zusammenbruch Nordkoreas erlebt, nur im chinesischen Netz fand nichts davon statt. Die blutigen Aufstände gegen die Junta in Birma vollzogen sich zwar auf dem Planeten Erde, nicht aber auf dem Planeten China. Wer versuchte, die Seiten von Reuters oder CNN aufzurufen, musste mit Repressalien rechnen. In gleichem Maße, wie die chinesische Mauer bröckelte, gewann die Mauer, die Diamond Shield um das Land errichtete, an Festigkeit, und dennoch wuchs die Angst der Behörden mit jedem Tag. Nicht nur die

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