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Limit

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Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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darüber auf, dass wir die Menschenrechte mit Füßen treten, aber im Grunde versteht ihr nur nicht, dass jemand für seine Meinung verhaftet werden kann in einem Land, in dem man Coca-Cola trinkt. Das geht nicht in euren Kopf. Eure Ethnologen beklagen das Verschwinden der letzten Kannibalen und plädieren für den Erhalt ihrer Lebensräume, aber wehe, die Kannibalen beginnen, Geschäfte zu machen und Krawatten zu tragen. Dann wollt ihr, dass sie binnen eines Wimpernschlags auf Hühnchen und Gemüse umsteigen.«
    »Tian, ich weiß beim besten Willen nicht –«
    »Ist dir eigentlich klar, dass der Begriff zi you erst Mitte des 19. Jahrhunderts nach China exportiert wurde?«, fuhr Tu unerbittlich fort. »Fünftausend Jahre chinesischer Geschichte haben ihn nicht entstehen lassen, ebenso wenig wie min zhu, Demokratie, und ren quan, Menschenrechte. Aber was heißt zi you? Dir selbst folgen. Dich und deinen Standpunkt zum Ausgangspunkt aller Überlegungen zu erheben und nicht das Dogma vom Denken und Fühlen der Masse. Du magst einwerfen, die Dämonisierung des Individuums sei eine Erfindung Maos, aber das täuscht. Mao Zedong war lediglich eine entsetzliche Variante unserer uralten Furcht, wir selbst zu sein. Vielleicht die gerechte Strafe, da wir in der Überzeugung erkaltet waren, außer Chinesen gäbe es nur Barbaren. Als China sich den westlichen Mächten notgedrungen öffnete, geschah es in völliger Unkenntnis dessen, was jedes andere Volk mit Kolonialerfahrung intuitiv weiß. Wir wähnten uns als Gastgeber, während die Gäste längst Eigentümer geworden waren. Mao wollte das ändern, doch er hat nicht einfach versucht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, wie es später die Ayatollahs in Persien taten. Sein Bestreben zielte darauf ab, Geschichte ungeschehen zu machen und China auf dem Gipfel seiner Ignoranz zu isolieren. Das geht nicht mit denkenden, fühlenden und kritischen Menschen. Das geht nur mit Automaten. Nicht Pu Yi war unser letzter Kaiser, Mao war es, wenn du verstehst, was ich meine. Er war der grausamste von allen, er hat uns alles gestohlen, Sprache, Kultur, Identität. Er hat jedes Ideal verraten und einen Trümmerhaufen hinterlassen.«
    Tu Tian machte eine Pause. Seine fleischigen Lippen zuckten. Auf seiner Glatze schimmerte der Schweiß.
    »Du fragst, wie Yoyo zur Dissidentin werden konnte? Ich will es dir sagen, Owen. Weil sie nicht mit einem Trauma leben will, das meine Generation und die meiner Eltern nie wird aufarbeiten können. Aber um ihrem Volk zu einer Identität zu verhelfen, kann sie nicht den Geist der Französischen Revolution zitieren, nicht die Errichtung der spanischen Demokratie, nicht das Ende Mussolinis und Hitlers, nicht den Sturz Napoleons oder den Zusammenbruch des Römischen Reiches. Während die Geschichte Europa mit unvorstellbarer Eloquenz ausgestattet hat, um seine Ansprüche zu formulieren, fehlten uns lange Zeit die einfachsten Wörter dafür. Oh ja, China funkelt! China ist reich und schön und Shanghai das Zentrum der Welt, in dem alles erlaubt ist und nichts unmöglich. Wir haben gleichgezogen mit den Vereinigten Staaten, zwei Wirtschaftsgiganten Kopf an Kopf, wir sind dabei, Nummer eins zu werden. Doch inmitten all dieses Glanzes leben wir innerlich verarmt, und wir sind uns dieser Verarmung bewusst. Wir stülpen uns nicht nach außen, Owen, es scheint nur so. Würden wir uns nach außen stülpen, sähe man die Leere, wie bei einem Tintenfisch. Unser Vorbild ist das Ausland, weil das letzte chinesische Vorbild, das wir hatten, uns verriet. Yoyo leidet darunter, ein Kind dieser ausgehöhlten Epoche zu sein, mehr, als es sich die selbstzufriedenen Kritiker der Globalisierung und der Menschenrechtsverletzungen in Europa und Amerika je vorstellen können. Ihr seht nur unsere Verfehlungen, nicht die Schritte, die wir unternehmen. Nicht, was wir bereits geschaffen haben. Nicht die unvorstellbare Mühsal, die es bereitet, ohne moralische Hinterlassenschaft für Ideale einzutreten, sie überhaupt zu formulieren!«
    Jericho blinzelte gegen das gleißende Sonnenlicht. Er hätte Tu gerne gefragt, wann man Chen Hongbing das Herz herausgerissen hatte, aber er verkniff sich jeden Kommentar. Tu schnaufte und wischte sich fahrig über den kahlen Schädel.
    »Das ist es, was Menschen wie Yoyo erbittert. Wer in England auf die Straße geht und Freiheit fordert, wird allenfalls gefragt werden, wofür. In China haben wir uns der Illusion hingegeben, unser irrsinniger Aufschwung

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