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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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in Chambers entzündeter Großhirnrinde stecken blieb. Geschmeidig wand sich der Lunar Express ins Mare Imbrium hinein, die angrenzende Wüstenebene. Das Gleis der Frachtverbindung zweigte wie angekündigt ab und verschwand im Westen, während sie Plato umrundeten und hinter sich ließen. Am Horizont türmten sich neue Berge auf, die Mondalpen, grell bestrahlt, von Schatten geädert. Kühn schwangen sich die Gleise in die Berglandschaft, krallten sich die Pfeiler der Magnetbahn in abschüssigen Fels. Je höher sie gelangten, desto atemberaubender gestaltete sich das Panorama, schroffe Zweitausender, kubistisch geformte Überhänge, scharf gezackte Grate. Ein letzter Blick auf den Staubteppich des Mare Imbrium, dann ging es kurvig ins Hinterland, zwischen Gipfeln und Hochebenen hindurch zum Rand eines lunaren Grand Canyon, und dort –
    Chambers glaubte ihren Augen nicht zu trauen.
    Ein Seufzer der Überwältigung ging durch den Zug. Kaum hörbar mischte sich das Summen des Antriebs in den von Geheimnissen schweren Bass des Zarathustra-Themas, während der Lunar Express langsamer wurde und funkelnd die ersten Fanfaren aufklangen. Strauss mochte Nietzsches Sonnenaufgang im Sinn gehabt haben, Kubrick die Transformation des menschlichen Genius zu etwas Neuem, Höheren, doch Chambers dachte im selben Augenblick an Edgar Allan Poe, dessen erzählerischen Abgrund sie in ihrer Jugend begeistert durchwandert hatte und der ihr mit einem einzigen Satz in Erinnerung geblieben war, mit dem schaurigen Abschluss seines ›Arthur Gordon Pym‹:
    Doch da erhob sich auf unserer Bahn die lakenumhüllte Gestalt eines Mannes, der größer war als je ein Bewohner der Erde, und die Hautfarbe des Mannes hatte die makellose Weiße des Schnees –
    Sie hielt den Atem an.
    In zehn, vielleicht zwölf Kilometern Entfernung, auf der Kuppe eines Plateaus hoch über einem terrassenförmigen Vorsprung, jenseits dessen der Canyon steil abfiel, saß etwas und schaute zur Erde empor.
    Ein Mensch.
    Nein, es hatte die Umrisse eines Menschen. Nicht die eines Mannes, sondern die einer Frau in perfekter Proportionierung. Kopf, Gliedmaßen und Körper leuchteten hell vor dem unendlichen Sternenmeer. Bar jeder Mimik, ohne Mund, Nase und Augen, haftete ihr dennoch etwas Verträumtes, nahezu Sehnsuchtsvolles an, wie sie die Beine über den Rand geschwungen und die Arme mit den durchgedrückten Ellbogen aufgestützt hielt, ihre ganze Hingabe dem stillen, fernen Planeten über ihr gewidmet, den sie niemals betreten würde. Sie war mindestens zweihundert Meter hoch.
     

DALLAS, TEXAS, USA
     
    Wäre Loreena Keowa nicht schon Aushängeschild von Greenwatch gewesen, man hätte sie dafür erfinden müssen.
    Ihre Wurzeln waren unverkennbar. Eine hundertprozentige Tlingit, Angehörige eines Volks, dessen Lebensraum von alters her den südöstlichen Küstenstreifen Alaskas umfasste und Teile des Yukon-Territoriums und Britisch-Kolumbiens auf kanadischer Seite mit einschloss. Knapp 8000 Tlingit waren verblieben, Tendenz schwindend. Nur wenige hundert Alte beherrschten noch die melodische Na-Dené-Sprache, zunehmend allerdings auch wieder junge Leute wie Keowa, die sich im ergrünten Amerika als Bannerträger ethnischer Selbstbehauptung verstanden.
    Keowa entstammte einem Raben-Clan aus Hoona, dem Dorf auf den Klippen, einer Tlingit-Siedlung auf Chichagof Island. Inzwischen, wenn sie nicht gerade in Vancouver weilte, dem Hauptsitz von Greenwatch, lebte sie 40 Meilen westlich von Hoona in Juneau. Ihr Gesichtsschnitt, eindeutig indianisch, trug zugleich Merkmale weißen Erbguts, obschon ihres Wissens nie ein Weißer in den Clan eingeheiratet hatte. Ohne im klassischen Sinne gut auszusehen, strahlte sie eine aufregende, leicht zu romantisierende Wildheit aus. Ihr Haar, lang und glänzend schwarz, entsprach der Vorstellung New Yorker Börsenmakler von Indianerhaar in gleicher Weise, wie ihr Stil, sich zu kleiden, allen Klischees vom edlen Wilden zuwiderlief. Ihrer Ansicht nach ließ sich Umweltschutz auch in Gucci und Armani betreiben. In der Sache deutlich, wurde sie kaum je polemisch. Ihre Reportagen galten als fundiert und schonungslos, zugleich gelang es ihr, niemanden in Bausch und Bogen zu verdammen. Ihre Gegner bezeichneten sie als wandelnde Kompromisslösung für weichgespülte Wall-Street-Ökoaktivisten, ihre Fürsprecher schätzten ihr integratives Potenzial. Was immer davon zutraf, unbestritten war, dass der Erfolg von Greenwatch maßgeblich auf Loreena Keowa

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