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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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ausgebreitet hatten, was verwertbar schien und nicht weglaufen konnte. Eine Frau in einem windschiefen Rattansessel, dösend im Schatten eines notdürftig gespannten Baldachins, vor sich einen Korb mit Auberginen. Ein Käufer, der zwei davon nahm, ihr das Geld hinlegte und weiterging, ohne sie zu wecken. Alte Leute im Gespräch, manche im Pyjama, andere mit freiem Oberkörper. Geschiebe und Gedränge auf bröckelnden Gehsteigen. Quer über den Weg gespannt das wehende Banner trocknender Wäsche, Kittel und Hemden, deren Ärmel einander zuwinkten, wann immer sich der Wind zwischen den Fassaden fing. Murmeln, Schwatzen und Schreien, melodisch, drohend, schrill und dunkel, zur Kakofonie gewoben. Die sägende Allgegenwart billiger Bikes, quietschende, klappernde Fahrräder, der Widerhall von Hammerschlägen und Bohrmaschinen. Geräusche der Instandhaltung, notdürftige Konservierung von Verfall. Einige Händler erspähten Jerichos blonden Schopf, sprangen auf die Füße und entsandten, ihre Handtaschen, Uhren und Skulpturen schwenkend, ein gellendes »looka, looka!« über die Straße, das er geflissentlich überhörte, bemüht, niemanden zu überrollen. In Shanghai, den inneren Bezirken Shanghais, war Verkehr mit Krieg gleichzusetzen. Schwerlaster jagten Busse, Busse hielten auf Autos zu, diese auf Zweiräder, und alle zusammen hatten sich der Ausrottung des Fußgängers verschrieben. In Quyu ging es weniger aggressiv zu, was im Resultat keine Verbesserung brachte. Man fuhr keine Attacken, sondern ignorierte den anderen komplett. Menschen, die eben noch um Hühner oder Haushaltsgeräte feilschten, sprangen unvermittelt auf die Fahrbahn oder standen in Grüppchen darauf herum, Wetter, Lebensmittelpreise und den Gesundheitszustand der Familie erörternd.
    Mit jedem Straßenzug sah Jericho weniger Händler, die auf Touristen eingerichtet waren. Die angebotenen Waren wurden ärmlicher. So wie die Zahl der Autos zurückging, nahm die der Fußgänger und Radfahrer zu, und das Gewühl lichtete sich. Immer öfter erblickte er nun zur Hälfte weggerissene Wohnhäuser, deren fehlende Wände notdürftig durch Pappe und Wellblech ersetzt worden waren, sämtlich bewohnt. Dazwischen häufte sich der Schutt von Jahren. Wie hingewürfelt erschien am Straßenrand eine Ansammlung grauer und mattblauer Modulbauten, vor denen arthritische Bäume verkümmerten, Autos wild abgestellt, der Zeit entstammend, da Deng Xiaoping jenes Wunder ausgerufen hatte, das in diesem Teil Chinas nie vollbracht worden war.
    Mit einem Mal wurde es dunkel um ihn herum.
    Je tiefer Jericho ins Herz von Quyu vordrang, desto unstrukturierter präsentierte es sich. Jede erdenkliche Architektur schien hier auf den Müll geworfen worden zu sein. Hochhäuser, im Bau aufgegeben, wechselten mit maroden Flachbauten und mehrgeschossigen Silos, deren Hässlichkeit noch unterstrichen wurde durch die verbliebenen Reste abblätternder Farbe. Es war der hilflose Versuch, das Unbewohnbare wohnlich zu gestalten, was Jericho am meisten berührte. Fast folkloristisch nahm sich der Wildwuchs selbst gezimmerter Verschläge aus, meist kaum mehr als in den Boden gerammte und von Planen überspannte Pfosten. Hier herrschte wenigstens Leben, die Silos hingegen erweckten den Anschein postatomarer Gruften.
    Inmitten einer Wüste aus Abfall hielt er an und schaute Kindern und Frauen zu, die Karren mit Abfall beluden, der ihnen verwertbar erschien. Ganze Areale wirkten, als seien einstmals intakte Stadtteile im Bombenhagel pulverisiert worden. Er versuchte sich zu erinnern, was er über Gegenden wie diese wusste. Eine Zahl, irgendwo aufgeschnappt, geisterte durch sein Hirn. 2025 lebten weltweit anderthalb Milliarden Menschen in Slums. 20 Jahre zuvor waren es eine Milliarde gewesen. Jedes Jahr kamen 20 bis 30 Millionen hinzu. Wer im Slum landete, hatte sich durch bizarre Hierarchien zu kämpfen, auf deren unterster Stufe man Müll sammelte und daraus Dinge herstellte, die sich verkaufen oder eintauschen ließen. Daxiongs Beschreibung zufolge würde er noch mindestens eine Stunde brauchen bis zum Andromeda. Er fuhr weiter, dachte an das Viertel, in das es ihn vor Jahren verschlagen hatte, kurz bevor es abgerissen worden und der Siedlung gewichen war, in der Yoyo nun wohnte. Damals hatte er nicht verstehen können, warum die Bewohner so an ihren Ruinen hingen. Begriffen hatte er nur, dass ihnen keine Wahl blieb, doch einigen hatten Angebote vorgelegen, sie außerhalb Shanghais in

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