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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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musste ihr klar geworden sein, dass man sie geortet hatte. Das war der Grund für ihren überstürzten Aufbruch. Wieder studierte er das Fragment. »Diane, suche Oranienburger Straße 50, 10117 Berlin.« Die Antwort kam postwendend. Jericho schaute auf die Uhr. Zwei Minuten vor zwölf. Er verband die Holobrille mit dem Computer, loggte sich ein und wählte die von Yoyo angegebenen Koordinaten.
     

DIE ZWEITE WELT
     
    Seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts, als sich Second Life nach dem zu erwartenden Zusammenbruch neu strukturiert hatte, gab es keinen zentralen Knotenpunkt mehr, ebenso wenig wie die Raumzeit einen realen Mittelpunkt kannte, sondern nur Beobachterposten in unendlich hoher Zahl, deren jeder die Illusion des Mittelpunktes schuf, etwa so, wie ein Erdbewohner seinen Standort als fix und das große Ganze als etwas empfand, das um ihn herum rotierte, sich von ihm fort- oder auf ihn zubewegte. Nicht anders fühlte ein Astronaut auf dem Mond und jedes Lebewesen im Universum, wo immer es sich aufhielt. Im realen Universum war die Gesamtheit aller Teilchen vernetzt, wodurch jedes Teilchen dessen relative Mitte einnehmen konnte.
    In ähnlicher Weise hatte sich Second Life zu einem Peer-to-Peer-Netzwerk gewandelt, einem quasi-unendlichen, dezentralisierten und selbstorganisierenden System, in dem jeder Server – gleich einem Planeten – einen Knotenpunkt bildete, der über beliebig viele Schnittstellen mit jedem anderen Knotenpunkt verbunden war. Jeder Teilnehmer war automatisch Gastgeber und Nutzer der Welten anderer. Wie viele Planeten Second Life umfasste, wer sie bewohnte oder kontrollierte, war unbekannt. Natürlich gab es Verzeichnisse, kybernetische Karten, bekannte Reiserouten und Protokolle, die es ermöglichten, sich im virtuellen Universum überhaupt erst zu verwirklichen, ebenso wie das äußere Universum physikalischen Randbedingungen unterworfen war. Im Rahmen dieser Standards reisten Avatare zu jedem Ort im Web, der ihnen bekannt war und zu dem sie Zugang erhielten. Nur gab es eben niemanden mehr, dem alles bekannt war.
    Jericho hätte erwartet, an einem solchen unbekannten Ort zu landen, doch Yoyos Koordinaten führten zu einem öffentlichen Knoten. Nahezu jede Metropole der echten Welt war mittlerweile virtuell nachgebaut worden, also reiste er von Shanghai nach Shanghai, um sich auf dem People's Square wiederzufinden, jedenfalls einer annähernd identischen Kopie. Im Unterschied zum wirklichen Shanghai gab es keine Verkehrsstaus und jenseits der Stadtgrenzen keine Gegenden wie Quyu. Dafür tauchten unentwegt neue Bauwerke auf, blieben eine Weile, veränderten sich oder verschwanden mit der Geschwindigkeit eines Mausklicks.
    Erbauer und Eigner von Cyber-Shanghai war die chinesische Regierung, finanziert wurde es sowohl von chinesischen wie ausländischen Konzernen. Die Partei unterhielt zudem ein zweites Peking, ein zweites Hongkong und ein virtuelles Chongqing. Wie alle Netzmetropolen, die realen Vorbildern nachempfunden waren, lag der Reiz der Darstellung im Verhältnis von Authentizität und Überhöhung. Es verwunderte kaum, dass mehr Amerikaner in Cyber-Shanghai lebten als Chinesen und der überwiegende Teil chinesisch aussehender Avatare Bots waren, als lebende Wesen getarnte Maschinen. Wiederum hatten etliche Chinesen ihre Zweitwohnsitze in Cyber-New-York, im virtuellen Paris oder Berlin. Franzosen und Spanier lebten bevorzugt in Marrakesch, Istanbul und Bagdad, Deutsche und Iren liebten Rom, Briten zog es nach Neu-Delhi und Kapstadt und Inder nach London. Wer davon träumte, in New York zu leben und es sich nicht leisten konnte, fand im Netz einen erschwinglichen, durchaus authentischen Big Apple, nur wilder, fortschrittlicher und noch ein wenig faszinierender als das Original. Wer im virtuellen Paris Geschäfte machte, suchte nicht die Abschottung, sondern war an möglichst vielen Schnittstellen zur realen Welt interessiert. BMW, Mercedes-Benz und andere Autohersteller verkauften in Cyber-Städten keine Fantasiekonstrukte, sondern Prototypen dessen, was sie tatsächlich zu bauen gedachten.
    Im Grunde waren Netzmetropolen nichts anderes als kolossale Testlabors, in denen niemand etwas dabei fand, statt per Schiff mit dem Raumschiff einzureisen, solange die Freiheitsstatue nur da stand, wo sie hingehörte. Die Eigner, also die jeweiligen Länder, schlugen hier ein weiteres Kapitel der Globalisierung auf, vor allem aber modellierten sie die Welt der Menschen auf eigentümliche Weise neu.

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