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Limit

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Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Zwar gab es auch im virtuellen New York Verbrechen und Terrorismus, wurden Gebäude durch Datenattacken gesprengt, Avatare sexuell belästigt, kannte man Raubüberfälle, Einbrüche, Körperverletzung und Vergewaltigung, konnte man eingesperrt oder verbannt werden. Nur eines gab es nicht:
    Armut.
    Es war keineswegs das idealisierte Abbild der Gesellschaft, das im Netz entstand. Man konnte hier krank werden. Hacker schleusten Cyberseuchen ein und streuten Viren. Man konnte einen Unfall haben oder einfach schlecht drauf sein, süchtig werden. In Zeiten hauchdünner Sensorhäute, in die man schlüpfte, um die Illusion der perfekten Grafik auch körperlich zu spüren, war Cybersex Haupteinnahme- und Ausgabequelle zugleich. Die Spielsucht grassierte, Avatare litten an Phobien wie Platzangst, Klaustrophobie, Agoraphobie und Arachnophobie. Nur von Überbevölkerung war weit und breit nichts zu spüren. Die Armen als Ursache allen Übels waren identifiziert und aus der menschlichen Wahrnehmung entfernt worden. Die Vernetzten leisteten sich ein Mumbai oder Rio de Janeiro, das unablässig wuchs, nur dass keine Verelendung damit einherging, weil Bits und Bytes eine Ressource waren, die es im Überfluss gab. Selbst Naturkatastrophen hatten die Cyber-Metropolen schon heimgesucht – wer in Tokio wohnte, erwartete eben von Zeit zu Zeit ein authentisches kleines Erdbeben.
    Doch Slums gab es nicht.
    Die Darstellung der Welt, wie sie sein könnte, wurde zur Welt selbst, mit allen Licht- und Schattenseiten des wahren Daseins – und erbrachte den Beweis, wer am globalen Missstand schuld war. Nicht der Kapitalismus, nicht die Industriegesellschaften, die angeblich nicht teilen wollten. Mit der Unerbittlichkeit der Empirik identifizierte das virtuelle Experiment jene als Schuldige, die von allem am wenigsten hatten. Das Heer der Armen in Quyu, in den brasilianischen Favelas, den türkischen Gecekondular, den Megaslums von Mumbai und Nairobi, Milliarden Menschen, die von weniger als einem Dollar am Tag zu leben hatten – im Cyberspace waren sie nicht isoliert und weggesperrt, nicht instrumentalisiert im Klassenkampf, nicht Gegenstand von Dritte-Welt-Gipfeln, Entwicklungshilfe, Gewissensbissen und Leugnung, nicht einmal Hassobjekt.
    Sie waren einfach nicht vorhanden.
    Und plötzlich lief alles reibungslos. Wo also lag das Problem? Wer verschuldete den Platzmangel, den Raubbau, die Umweltverschmutzung, da das virtuelle Universum ohne Armut doch so wunderbar funktionierte? Es waren die Armen. Zwecklos, die Unmöglichkeit des Vergleichs zwischen beiden Systemen, dem kohlenstoff- und speicherbasierten, zu betonen. Mit dem naiven Zynismus des Philosophen, der als Wurzel allen menschlichen Übels die Überbevölkerung benennt und sich die Ohren zuhält, sobald über Konsequenzen gesprochen wird, wiesen Vertreter der Netzgemeinschaft darauf hin, hier gäbe es nun mal keine Armen. Nicht, weil jemand Zuwendungen eingestellt, Slums niedergewalzt oder gar Millionen umgebracht hatte. Sie waren einfach niemals aufgetaucht. Second Life zeigte, wie die Welt ohne sie aussah, und definitiv sah sie um einiges besser aus, honi soit qui mal y pense.
    Natürlich gab es im virtuellen Shanghai auch verschiedenes andere nicht. Keinen Smog zum Beispiel, was Jericho jedes Mal aufs Neue irritierte. Eben weil die Simulation den menschlichen Sehgewohnheiten Rechnung trug, veränderte das Fehlen der immerwährenden Dunstglocke den Gesamteindruck vollständig.
    Er schaute sich um und wartete.
    Avatare und Bots aller Art waren unterwegs, viele flogen oder schwebten über dem Erdboden dahin. Kaum jemand ging. An sich erfreute sich das Gehen in Second Life einiger Beliebtheit, allerdings eher auf kurzen Strecken. Nur in ländlich programmierten Welten stieß man auf Wanderer, die stundenlang zu Fuß unterwegs waren. Bis über die höchsten Gebäude hinaus herrschte zügig fließender Verkehr. Auch hierin unterschied sich das programmierte Shanghai vom echten. Im Netz war auch die Vision einer luftgestützten Infrastruktur Wirklichkeit geworden.
    Eine Gruppe außerirdischer Einwanderer bewegte sich gestikulierend und lärmend auf das Shanghai Art Museum zu. In letzter Zeit tauchten zunehmend Reptiloide aus dem Sternbild des Sirius auf. Niemand wusste so recht, wer sie steuerte. Sie galten als rätselhaft und ungehobelt, trieben allerdings erfolgreich Handel mit neuartigen Technologien zur Steigerung der sensitiven Empfindsamkeit. Cyber-Shanghai unterlag vollständig der

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