Limit
konventionell gestrickt, außerdem quatschen sie nicht gern in Mikrofone, trotz Stimmverfremder. Lieber tippen sie ihren Bullshit nach alter Väter Sitte auf der Tastatur, und Ma hat natürlich fleißig mitgeschrieben und sich ordentlich produziert. Also kam mir die Idee, ebenfalls Beiträge dort abzusetzen.«
»Dir muss sich der Magen umgestülpt haben!«
»Ich hab einen Schalter im Hinterkopf und einen weiteren im Bauch. Meist gelingt es, wenigstens einen davon umzulegen.«
»Und vorhin im Keller?«
»Tian.« Jericho seufzte. »Wenn es mir da gelungen wäre, hätte ich dir den ganzen Mist nicht erzählt.«
»Schon gut. Weiter.«
»Also, alle möglichen Besucher der Seite sind online, und Ma, das eitle Schwein, natürlich auch. Er tarnt sich als Besucher, aber du merkst, er weiß einfach zu viel, und er entwickelt ein enormes Mitteilungsbedürfnis, sodass mir der Verdacht kommt, dass dieser Typ zumindest einer der Initiatoren ist, und nach einer Weile bin ich überzeugt, er ist es. Zuvor habe ich seine Beiträge einer semantischen Analyse unterworfen, Besonderheiten des Ausdrucks, präferierte Idiome, Grammatik, und der Computer grenzt das Feld ein, aber es bleiben immer noch rund einhundert aktenkundige Internet-Pädophile, die infrage kämen. Also lasse ich den Kerl analysieren, während er online ist und schreibt, und sein Tipprhythmus verrät ihn. So gut wie jedenfalls. Vier bleiben übrig.«
»Einer davon Ma.«
»Ja.«
»Und du bist überzeugt, er ist es.«
»Im Gegensatz zur Polizei. Die sind natürlich der Überzeugung, dass Ma es als Einziger von den vieren nicht ist.«
»Darum dein Alleingang. Hm.« Tu machte eine Pause. »Dein Einsatz in allen Ehren, aber hast du mir nicht kürzlich erzählt, das Angenehme am i-Profiling sei, dass man sich nur noch mit Computerviren rumprügeln muss?«
»Ich will mich auch nicht mehr prügeln«, sagte Jericho müde. »Ich will keine toten, verstümmelten und geschändeten Menschen mehr sehen, auf niemanden mehr schießen müssen, und ich will auch nicht, dass auf mich geschossen wird. Es reicht, Tian.«
»Bist du sicher?«
»Todsicher. Das war das letzte Mal.«
In seinem Zuhause, das keines mehr war angesichts einer Wand von Umzugskartons, die er im Verlauf mehrerer Wochen gepackt hatte und die sein in Utensilien konserviertes Leben auf eigenartige Weise nivellierten, als entstamme es einem Fundus und müsse in standardisierter Originalverpackung zurückgegeben werden, beschlich Jericho plötzlich die Angst, den Bogen überspannt zu haben.
Es war kurz nach zehn, als ihn das Taxi vor dem Hochhaus in Pudong absetzte, das er in wenigen Tagen verlassen würde, um seine Traumwohnung zu beziehen, doch wann immer er die Augen schloss, sah er den halb verwesten Säugling in dem Verschlag liegen, das Heer der Destruenten, die über ihn gekommen waren, um sein Fleisch zu verwerten, sah Mas Messer auf sich herabsausen, empfand wieder den Augenblick der Todesangst, ein filmisches Drama, das von nun an pausenlos zur Aufführung gelangen würde, sodass sein neues Heim seine Albtraumwohnung zu werden drohte. Einzig die Erfahrung sagte ihm, dass Gedanken ihrer Natur nach ziehende Wolken waren und alle Bilder irgendwann verblassten, doch bis dahin konnte es ein langes, quälendes Leiden sein.
Hätte er bloß den verdammten Auftrag nicht angenommen!
Falsch, schalt er sich. Im Konjunktiv lauerte wahre Verzweiflung, im Ausspinnen alternativer Handlungsstränge, die keine Alternativen waren, weil jeder nur einen einzigen Weg frei hatte. Wobei sich nicht mal sagen ließ, ob man ihn wirklich ging oder gegangen wurde, ob man entschied oder es sich entschied, was wieder die Frage nach dem Es aufwarf, du lieber Himmel! War man das Medium vorbestimmter Prozesse? Hatte er eine Wahl gehabt, den Auftrag anzunehmen? Natürlich, er hätte ihn ablehnen können, hatte er aber nicht. Wurde nicht jede Vorstellung einer Wahl damit obsolet? Hatte er eine Wahl gehabt, Joanna nach Shanghai zu folgen? Welchen Weg man einschlug, den nahm man, also gab es überhaupt keine Wahl.
Wohlfeile Erkenntnis zur bitteren Wahrheit. Vielleicht sollte er einen Ratgeber schreiben. Die Flughafenbüchereien waren voller Ratgeber. Selbst solche hatte er schon gesehen, die vor Ratgebern warnten.
Wie konnte man so hellwach und zugleich so müde sein?
Gab es nicht noch etwas zu packen?
Er schaltete die Monitorwand ein, fand eine Dokumentation der BBC – im Gegensatz zum Gros der Bevölkerung konnte er die
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