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Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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müssen sich die Toten verantworten.«
    »Das heißt, jeder kommt in die Hölle?«
    »Erst mal ja. Und jeder vor ein besonderes Gericht, entsprechend seiner Taten. Die Guten werden zurück an die Oberfläche geschickt und in einer höheren Inkarnation wiedergeboren. Die Bösen werden auch wiedergeboren, nachdem sie ihre Höllenstrafe abgesessen haben, aber als Tiere.«
    Jericho sah Vogelaar an.
    »Als was ist Kenny Xin wiedergeboren worden?«
    »Gute Frage. Als Bestie in Menschengestalt?«
    »Und was war er vorher?«
    Vogelaar saugte an seinem Zigarillo.
    »Ich habe versucht, Informationen über Yü Shen zu sammeln. Schwieriges Unterfangen. Offiziell existiert die Abteilung nämlich nicht, tatsächlich ist sie mit dem Höllengericht durchaus vergleichbar. Sie rekrutiert ihre Mitglieder aus Gefängnissen, psychiatrischen Anstalten und Kliniken für Hirnforschung. Man kann auch sagen, sie sucht nach dem Bösen. Nach Hochbegabten, deren psychischer Defekt die Hemmschwelle so weit herabgesetzt hat, dass sie normalerweise weggeschlossen würden. Bei Yü Shen hingegen bekommen sie eine zweite Chance. Nicht, dass man dort bessere Menschen aus ihnen machen will, eher geht es darum, wie sich das Böse instrumentalisieren lässt. Sie führen Tests durch. Alles mögliche Zeugs, Dinge, die ihr nicht wissen wollt. Nach Ablauf eines Jahres entscheiden sie, ob du in Freiheit wiedergeboren wirst, etwa beim Militär oder Geheimdienst, oder dein Leben in der Hölle der Anstalt beschließt.«
    »Klingt nach einer Armee von Schlächtern«, sagte Yoyo angewidert.
    »Nicht unbedingt. Einige Yü-Shen-Absolventen haben erstaunliche Karrieren gemacht.«
    »Und Kenny?«
    »Als Yü Shen ihn aufspürte, war er gerade 15 geworden und saß in einer Anstalt für geistesgestörte jugendliche Straftäter. Das meiste davor bleibt im Dunkel. Offenbar wuchs er in bitterer Armut auf, im hintersten Winkel einer informellen Siedlung, wo sich nicht mal Wanderarbeiter blicken ließen. Vater, Mutter, zwei Geschwister. Über die näheren Umstände weiß ich nichts. Nur, dass er eines Nachts, im Alter von zehn Jahren, als alle schliefen, zwei Kanister Benzin im Wellblechverschlag seiner Familie ausgoss. Dann blockierte er sämtliche Fluchtwege mit Barrikaden, die er in wochenlanger Arbeit aus Müll gefertigt hatte, verhakte sie so ineinander, dass niemand herauskam, und setzte alles in Brand.«
    Yoyo starrte ihn an.
    »Und seine –?«
    »Verbrannt.«
    »Die ganze Familie?«
    »Alle. Es war purer Zufall, dass irgendein Hirnklempner Wind von der Sache bekam und den Jungen mitnahm. Er attestierte überragende Intelligenz und eine ausgeprägte Klarheit des Denkens. Der Junge stritt nichts ab, beschönigte nichts, nur dass er mit keinem Wort darauf einging, warum er die Tat begangen hatte. Vier Jahre lang reichte man ihn in Fachkreisen weiter, versuchte die Ursache seines Handelns zu ergründen, bis schließlich Yü Shen auf ihn aufmerksam wurde.«
    »Und die haben ihn auf die Menschheit losgelassen!«
    »Er galt als gesund.«
    »Gesund?«
    »In dem Sinne, dass er die Kontrolle über sich hatte. Sie fanden nichts. Keine Geisteskrankheit jedenfalls, wie sie in Büchern steht. Lediglich ein bizarres Verlangen nach höherer Ordnung, eine Faszination für Symmetrie. Klassische Symptome von Zwanghaftigkeit, aber insgesamt nichts, was ihn zum Irren abgestempelt hätte. Er war einfach nur – böse.«
    Eine Weile herrschte beklommenes Schweigen. Jericho rekapitulierte, was er über Xin wusste. Seine Liebe zur Inszenierung, die unheimliche Fähigkeit, anderen in die Köpfe zu schauen. Vogelaar hatte recht. Kenny war böse. Und doch kam es ihm vor, als sei das noch nicht die ganze Wahrheit. Zugleich schien seinem Handeln ein dunkler Kodex zugrunde zu liegen, dem er folgte und sich verpflichtet fühlte.
    »Nun, einstweilen hatte ich keinen Grund, Kenny zu misstrauen. Alles lief wie geschmiert. Peking hielt sich ans Bekenntnis zur Nichteinmischung, Mayé genoss den Status eines autonomen Herrschers. Öl floss gegen Geld. Dann kam der Niedergang. Alle Welt sprach von Helium-3, jeder wollte nur noch auf den Mond. Das Interesse an den fossilen Ressourcen ließ sukzessive nach, und Mayé konnte nichts daran ändern. Rein gar nichts. Weder durch Hinrichtungen noch Tobsuchtsanfälle.« Vogelaar schnippte Asche von seinem Zigarillo. »Nun ja. Am 30. April 2022 rief er mich in sein Büro. Als ich eintrat, saß da schon Kenny in Begleitung einiger Männer und Frauen, die er uns als

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