Limit
gerade, er legt auf. Ich verbinde Sie weiter. Einen schönen Tag noch.«
»Danke.«
»Helge Malchow«, sagte Jericho.
»Charité Berlin. Sie hatten wegen der chinesischen Ermittler angerufen.«
»Richtig.« Sein Deutsch war gar nicht so übel. Allenfalls ein bisschen eingerostet. »Sind die beiden schon eingetroffen?«
»Nein, aber das geht klar. Sie sollen gleich zum Haus O fahren.«
»Sehr schön.«
»Könnten Sie mir vielleicht die Namen sagen?«
»Hauptkommissar Tu Tian leitet die Untersuchungen, Kommissarin Chen Yuyun begleitet ihn. Beide ermitteln verdeckt, also haben Sie die Freundlichkeit, ihnen schnell und unbürokratisch Zugang zu gewähren.« Was ziemlicher Unsinn war, doch es klang nicht schlecht. »Die Kollegen sprechen übrigens nur Englisch.«
»Alles klar. Wir werden schnell und unbüro –«
»Herzlichen Dank.« Jericho legte auf und wählte Tus Nummer.
»Es geht los«, sagte er.
Tu ließ das Handy sinken und sah Yoyo an. In seinem Blick stand zu lesen, dass er die vor ihnen liegende Aufgabe mit aller Inbrunst hasste.
»Eigentlich wollte ich nie wieder tote Menschen sehen«, sagte er. »Tote Menschen in gekachelten Räumen. Nie wieder.«
»Irgendwann werden wir alle Tote in gekachelten Räumen sein.«
»Wenigstens muss ich mich dann nicht selber sehen.«
»Das weißt du nicht. Angeblich sieht man sich, wenn man stirbt. Man sieht sich da liegen, und es ist einem egal.«
»Mir nicht.« Yoyo zögerte, dann streckte sie ihre schmalen, weißen Finger aus und drückte Tus fleckige, fleischige Hand. Ein Kind, das einem Riesen Zuversicht spendete. Sie dachte an den vergangenen Abend und die zerrissene Nacht, in deren Verlauf Tu ihr eine Geschichte erzählt hatte von Menschen, die so lange eingesperrt gewesen waren, dass das Gefängnis am Ende in ihnen war. Eine aus Selbstvorwürfen geschnürte Bürde, auf unverstandene Weise für den Kummer größerer Wesen verantwortlich zu sein, war von ihr genommen und in Form einer noch viel deprimierenderen Wahrheit zurück auf ihre Schultern gewuchtet worden. Sie hatte geraucht, getrunken, geweint und sich hilflos und unnütz gefühlt, so wie sich Kinder angesichts der verstörend komplexen Stimmungsbilder ihrer Erzeuger nun mal fühlten, deren Symptome sie nicht verstanden und darum auf sich bezogen. Jedes Plädoyer, das Tu zu ihrer Entlastung hielt, vergrößerte nur ihren Schmerz. Kraft seiner Schilderung von jahrelangem Selbstmitleid befreit, hatte sie umso größeres Mitleid mit Hongbing empfunden und sich gefragt, ob sie einen Vater wollte, der bemitleidenswert war. Schon schämte sie sich dafür, diesen Gedanken gedacht zu haben, und fühlte sich wieder schuldig.
»Niemand will seine Eltern bemitleiden«, hatte Tu gesagt. »Wir wollen, dass sie uns eine Weile beschützen, und irgendwann, dass sie uns in Ruhe lassen. Die größte Leistung, die wir vollbringen können, ist, ihr Handeln zu verstehen und dem Kind, das wir waren, zu vergeben.«
Dabei verdiente auch Tu Mitleid, nur schien er es nicht nötig zu haben, im Gegensatz zu ihrem Vater, dem die Geschichte, wie sie argwöhnte, noch weit übler mitgespielt hatte. Doch im Gegensatz zur Bitternis, die Hongbing gegessen hatte, war ihr Tus Schicksal nicht –
»Unangenehm?« Tu hatte gelacht. »Schon in Ordnung. Ich bin ja nicht mal dein Onkel. Ich bin ein alter Sack mit einer jungen Frau. Du siehst in mir, wer ich bin, nicht wer ich war. Die Geschichte kettet uns nicht aneinander.«
»Aber wir sind doch – Freunde?«
»Ja, wir sind Freunde, und wenn dein Interesse an meinem Bankkonto größer und deine Skrupel geringer wären, könntest du meine Geliebte sein. Hongbing hingegen kannst du nur auf eine einzige Weise betrachten, nämlich jene, die dir die Evolution gewährt. Darin ist kein Platz für Mitleid. Es ist einfach nicht vorgesehen. Erst wenn das Rollenspiel ausgespielt ist, das die Gene uns auferlegen, können wir unsere Eltern als das sehen, begreifen, akzeptieren, achten und möglicherweise lieben, was sie sind und immer schon waren: Menschen.«
Ach je, und dann noch ihr spätnächtlicher Besuch bei Jericho. Wie blamabel! Aufgebläht von rauschhaften Vorstellungen sein Zimmer zu stürmen, nur um sich unverrichteter Dinge wie eine gewöhnliche Betrunkene wieder hinauszustehlen. Eine Nichtigkeit, sicher, dummerweise nach Art aller Nichtigkeiten geeignet, sich zu einem Elefanten an Scham auszuwachsen. Dabei war ihr nachträglich nicht einmal klar, was sie dort gewollt hatte.
Oder
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