Limit
doch?
»Bringen wir's hinter uns«, sagte Tu.
Vor einer Viertelstunde hatten sie den Audi am Spreeufer abgeholt, nun parkten sie gegenüber dem Institut für Rechtsmedizin der Charité. Tu startete und lenkte den Wagen vor die Schranke des Pförtnergebäudes, wedelte aus dem Fenster heraus mit seinem Ausweis, verwies auf die Legitimierung seines Besuchs durch das Auswärtige Amt und fragte nach dem Weg zum Haus O. Sie fuhren an lang gestreckten Backsteinbauten vorbei. Unter der Obhut sanft wogender Laubbäume luden üppige Grünflächen ein, sich mit Baguette, Käse und einer Flasche Chianti darauf niederzulassen und jede Minute zu feiern, die einen vom rien ne va plus des Hauses O trennte. Eine unterschwellige Ruhesehnsucht stellte sich ein, wie sie selbst lebenslustige Menschen auf idyllisch gestalteten Friedhöfen überkommt.
Nach längerer Geradeausfahrt und zweimaligem Abbiegen hielten sie vor einem hellen, etwas steril wirkenden Gebäude mit dem Charme einer Kleinstadtambulanz. Dies und der Umstand, dass auf dem Vorplatz lediglich drei grüne Spezialfahrzeuge mit der Aufschrift Gerichtsmedizin parkten, vermittelte Yoyo ein irritierendes Gefühl von Noch-nicht-Angekommen-Sein, so als lägen die richtigen Leichen woanders. Sie hatte sich das rechtsmedizinische Institut einer Megametropole wie Berlin, in der unablässig gestorben wurde, als etwas Hangarartiges vorgestellt, doch das verschämt geduckte Haus ließ kaum auf disputierende Ärzte, Kommissare und Profiler schließen, wie man sie aus einschlägigen Filmen kannte. Sie erstiegen drei Stufen, schellten an einer Glastür und wurden von zwei weiß gekleideten Frauen eingelassen, eine groß, hübsch und ziemlich jung, die andere drahtig und kompakt, Ende vierzig, mit apfelwangigem Teint und praktischer Allwetterfrisur, die sich als Dr. Marika Voss und ihre jüngere Begleitung als Svenja Maas vorstellte. Tu und Yoyo hielten gleichzeitig ihre ID-Karten hoch. Dr. Voss warf einen raschen Blick auf die Schriftzeichen und nickte, als gehöre die Inaugenscheinnahme chinesischer Dokumente zu ihren täglichen Freuden.
»Ja, Sie wurden uns angekündigt«, sagte sie in eckigem Englisch. »Miss Chen Yuyun?«
Yoyo schüttelte ihr die Hand. Ein Anflug von Nachdenklichkeit huschte über das Gesicht der Ärztin. Ganz klar versuchte sie Yoyos Erscheinung mit einer Behörde in Übereinstimmung zu bringen, die verdeckt in Mordgeschichten unterwegs war. Ihr Blick pendelte zu Svenja Maas und wieder zurück, als müsse sie sich in Erinnerung rufen, dass gut aussehende Menschen noch in ganz anderen Berufen tätig waren.
»Und Mister, Sir –«
»Hauptkommissar Tu Tian, sehr freundlich von Ihnen«, sagte Tu liebenswürdig. »Wir wollen Ihre Zeit nicht allzu lange in Anspruch nehmen. Ist die Obduktion schon abgeschlossen?«
»Sie interessieren sich für Andre Donner?«
»Ja.«
»Mit ihm sind wir vor wenigen Minuten fertig geworden, mit Nyela Donner noch nicht. Sie wird zwei Tische weiter obduziert. Müssen Sie auch auf sie einen Blick werfen?«
»Nein.«
»Oder auf den zweiten Toten aus dem Museum? Seine Identität kennen wir allerdings noch nicht.«
Tu zog die Stirn in Falten.
»Möglicherweise. Ja, ich denke schon.«
»Gut. Kommen Sie.«
Dr. Voss schaute in einen Scanner. Eine weitere Türe öffnete sich. Sie betraten einen Korridor, in dem Yoyo erstmals jenen süßlich strengen Geruch wahrnahm, zu dessen Kompensation sich die Leute im Fernsehen immer irgendwelches Zeugs unter die Nase rieben. Das Produkt bakterieller Zersetzung verdichtete sich von einer Ahnung zu einer Wolke, als sie die Treppe zum Sektionsbereich heruntergingen, und von einer Wolke zu einem stehenden Gewässer, als sie den Vorraum zum Sektionssaal betraten. Ein junger, arabisch aussehender Mann lud Fotos von Kindergesichtern auf einen Monitor. Yoyo wollte gar nicht erst anfangen, über die Kinder nachzudenken. Sie kam auch nicht dazu, weil Dr. Voss ihr beiläufig etwas in die Hand drückte. Vollkommen ratlos betrachtete sie die winzige Tube und fühlte sich in der Falltür der Unwissenheit verschwinden.
»Für Besucher«, sagte die Ärztin. »Sie wissen schon.«
Nein, wusste sie nicht.
»Zum Unter-die-Nase-Reiben.« Dr. Voss hob verwundert die Brauen. »Ich dachte, Sie hätten –«
»Es ist Frau Chens erster Einsatz in der Forensischen Pathologie«, sagte Tu, nahm Yoyo die Tube aus den Fingern, drückte wie selbstverständlich zwei erbsengroße Abschnitte einer Paste daraus hervor und
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