Limit
Schädel dröhnte, ihre Nase schien auf mehrfache Größe angeschwollen. Rasch rollte sie sich aus Norringtons Reichweite, hielt die Schere von sich gestreckt, doch statt sich auf sie zu stürzen, humpelte er davon.
»Hiergeblieben«, keuchte sie.
Norrington begann zu laufen, soweit es sein verletztes Bein zuließ, hastete in grotesken Sprüngen aus dem Büro. Yoyo rappelte sich hoch. Sofort fiel sie wieder und betastete ihr Gesicht. Blut lief aus ihrer Nase. Von Schwindel geplagt, kam sie endlich auf die Beine, wankte aus dem Raum hinaus auf die Empore und sah Norrington jenseits der gläsernen Brücke, die den westlichen Trakt des Big O mit dem Ostflügel verband, eine Treppe erklimmen.
Der Mistkerl wollte zum Flugdeck.
Eine bedächtige Stimme mahnte sie, ihren Hass niederzukämpfen, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, es könne gefährlich werden dort oben. Sie hörte nicht hin. Ebenso wenig, wie ihr Zweifel an Norringtons Schuld kamen, konnte sie in diesen Sekunden an etwas anderes denken, als dass sie ihn nicht entwischen lassen durfte. Sie setzte ihm nach, warf einen Blick in die dunkle, gläserne Schlucht unter der Brücke, fühlte Übelkeit ihre Speiseröhre empordrängen, zwang sie zurück.
Norrington quälte sich die letzten Stufen hinauf.
Verschwand.
Sie schüttelte sich. Begab sich erneut an die Verfolgung, überwand die Brücke, hastete die Treppe hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in ständiger Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, schaffte es nach oben und sah eine der Glastüren zugleiten, die aufs Dach führten.
Norrington war da draußen.
Die Schere fest gepackt, marschierte sie ihm hinterdrein, und die Glastüren glitten wieder auf. Vor ihren Augen erstreckte sich das Flugdeck mit seinen Helikoptern und Skycars. Norrington humpelte auf etwas zu, ohne sich umzudrehen, winkte.
»Hier«, rief er.
Sie beschleunigte ihren Gang. Registrierte mit gelinder Verblüffung, dass es auch Airbikes hier oben gab, ein Airbike, um genau zu sein, das ihr am Vortag gar nicht aufgefallen war, und mit einem Mal wusste sie auch, warum nicht.
Weil es nicht da gewesen war.
Sie stoppte. Ihr Blick wanderte über das Deck und verfing sich in den verdrehten Gliedmaßen zweier dahingestreckter Wachleute. Eine Gestalt stieg von dem Bike. Norrington knickte ein, fing sich und schlurfte weiter der Maschine entgegen. Die Gestalt richtete eine Waffe auf ihn, und er blieb stehen, die Hand auf seinen Oberschenkel gepresst.
»Kenny, was soll das?«, fragte er unsicher.
»Wir halten Sie für ein Risiko«, sagte Xin. »Sie sind dumm genug, sich schnappen zu lassen, und dann werden Sie Dinge erzählen, die nicht erzählt werden sollten.«
»Nein!«, schrie Norrington. »Nein, ich verspreche –«
Sein Körper wurde ein kleines Stück in die Höhe gehoben, hing kurz wie ein Hampelmann in der Luft, dann flog er mit ausgebreiteten Armen rückwärts und knallte Yoyo vor die Füße.
Wo sein Gesicht gewesen war, breitete sich eine rote Masse aus.
Sie erstarrte. Sank auf die Knie und ließ die Schere fallen. Xin kam auf sie zu und hielt ihr den Lauf der Waffe an die Stirn.
»Wie nett«, flüsterte er. »Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben.«
Yoyo starrte vor sich hin. Sie dachte, wenn sie ihn ignorierte, würde er vielleicht einfach verschwinden, doch er verschwand nicht, und langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen, weil es vorbei war. Endgültig vorbei. Diesmal würde niemand zu ihrer Rettung herbeieilen. Niemand konnte sich noch dazwischenwerfen, mit dem Xin nicht gerechnet hatte.
Ganz leise und heiser, kaum, dass sie ihr eigenes Wort verstehen konnte, sagte sie: »Bitte.«
Xin ging vor ihr in die Hocke. Yoyo hob den Blick zu der schönen, ebenmäßig geschnittenen Maske seines Gesichts.
»Du bittest mich?«
Sie nickte. Die Mündung der Waffe drückte sich fester gegen ihre Stirn, als wolle sie ein Loch hineinfressen.
»Um was? Um dein Leben?«
»Um das Leben aller«, hauchte sie.
»Wie unbescheiden.«
»Ich weiß.« Dicke Tränen liefen ihr über die Wangen, ihre Unterlippe begann zu beben. Und plötzlich machte sie die eigenartige Erfahrung, wie die zur Gefährtin gewordene Angst mit den Tränen herausgeschwemmt wurde, sodass nur tiefe, schmerzende Trauer darüber blieb, dass sie nun nie erfahren würde, was Hongbing geschehen und warum ihr Leben so und nicht anders verlaufen war. Kein Xin vermochte sie noch zu erschrecken. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte sich ihm an den Hals
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