Limit
das Zeug schwerste körperliche und seelische Schäden hinterlässt. Im dritten Jahr seines Aufenthalts, im Sommer '96, wird eine junge Arbeiterin eingeliefert, die den Sohn ihres Fabrikleiters wegen der Entgegennahme von Schmiergeldern angezeigt hatte, woraufhin der Sohn sie bewusstlos schlug und sie ihn erneut anzeigte, eine Unverschämtheit, die der Fabrikleiter, der Polizeichef und der Verwaltungsvorstand des Ankangs zum Anlass nahmen, sie für geisteskrank zu erklären. Ohne ärztliches Gutachten, ohne Anzeige oder Urteil verschwindet sie in der Klinik, während der Schwiegersohn des Ankang-Verwaltungschefs Abteilungsleiter der Fabrik wird. Zufälle gibt's. Tja, und Hongbing? Der verliebt sich in die Frau und kümmert sich um sie, bis sie sechs Monate nach der Einlieferung bei einer Insulinschocktherapie stirbt. Dieses Ereignis bricht seinen letzten Widerstand. Am Tag, als er die Frau verlor, hat Hongbing auch seine Kraft verloren.«
»Das ist schrecklich, Tian«, sagte Jericho leise.
Tu zuckte die Achseln. »Es ist die Geschichte einer falschen Abzweigung, wie man sie im Leben schon mal nimmt. Eine Geschichte des Hätte-ich-doch und Wäre-ich-bloß-nicht. Dann, im Frühjahr '97, erhält die lustige Beklopptentruppe Zuwachs durch einen lebhaften Typen, von Haus aus wohlhabend, pragmatisch und selbstsicher. Erwartungsgemäß nehmen sich die Ärzte erst mal dieser Selbstsicherheit an. In Dissidentenkreisen ist der Mann kein unbeschriebenes Blatt, er gilt als Lokalheld im Kampf gegen die Korruption. Hat Tausende Angestellte einer Fabrik für elektronische Bauteile, in der er Abteilungschef war, zum Protest gegen die Leitung mobilisiert, die sich auf Kosten der Belegschaft bereicherte, ist mit Beweisen zum Pekinger Beschwerdeamt gefahren, nur um inhaftiert und eingewiesen zu werden. Im Ankang geben sie ihm allerlei Zeugs, das ihn krank macht, seine Haare fallen aus, er leidet an spastischen Zuckungen, Schlaflosigkeit, Nervenschwäche und Gedächtnisverlust, doch seinen Überlebenswillen kriegen sie nicht klein. Sein einziges Ziel ist es, schnellstmöglich wieder rauszukommen, und er hat mächtige Freunde in Shanghai, zum Beispiel spielt sein Schwager mit dem Polizeichef Golf. Dieser Mann mag Hongbing. Er verbringt viel Zeit mit ihm, hört ihm zu, baut ihn allmählich wieder auf. Sechs Monate später ist der Mann draußen, bekommt eine leitende Position in einem Softwarekonzern zugeschanzt und plant die Architektur seines Aufstiegs. Als im folgenden Jahr endlich auch Hongbing freikommt, dreißig Jahre ist er nun alt, fünf davon hat er in der Nervenheilanstalt verbracht, verschafft ihm sein Freund aus dem Ankang unter der Hand einen Job bei einem Autohändler und macht es sich zur Aufgabe, ihn fortan zu unterstützen, wo immer er kann.«
Die Sonne war höher gestiegen. Weiches, rosenfarbenes Morgenlicht überzog die Dächer.
»Du bist der Freund aus dem Ankang«, sagte Jericho leise.
»Ja.« Tu nahm seine Brille ab und begann sie an einem Zipfel seines Hemds zu putzen. »Ich bin der Freund. Das ist es, was Hongbing und mich verbindet.«
Jericho schwieg eine Weile.
»Und Hongbing hat nie mit Yoyo über diese Zeit gesprochen?«
»Nie.« Tu hielt die Brille gegen das Licht und schaute prüfend durch die Gläser. »Schau dir dein eigenes Leben an, Owen. Du weißt doch selbst, es gibt Erlebnisse, die legen sich wie Schlösser vor deine Stimmbänder. Die Scham lässt dich verstummen, außerdem denkst du, wenn du nicht darüber redest, verblasst es mit den Jahren, aber es gewinnt nur immer mehr Macht über dich. Nach seiner Freilassung erwog Hongbing, vor Gericht zu ziehen. Ich sagte, bau dir eine Existenz auf, bevor du weitere Schritte unternimmst. Sein Sachverstand für Autos war immens! Wann immer ein neues Modell auf den Markt kam, wusste er binnen Kurzem alles darüber. Er hörte auf mich und stieg zum Verkäufer auf. 1999 lernte er ein Mädchen aus Ningbo kennen und heiratete sie völlig überstürzt. Sie passten kein bisschen zusammen, aber er wollte wohl im Zeitraffer die verlorenen fünf Jahre nachholen und ganz schnell eine Familie gründen. Yoyo wurde geboren, die Ehe scheiterte wie vorhergesehen, weil Hongbing entdeckt zu haben glaubte, er könne nicht mehr lieben, aber tatsächlich konnte er nur sich nicht lieben und kann es bis heute nicht. Das Mädchen zog zurück nach Ningbo, Hongbing erhielt das Sorgerecht und versuchte, Yoyo zu geben, was er nicht hatte.«
»Nähe.«
»Hongbings Problem ist, dass
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