Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Limit

Limit

Titel: Limit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
dass man zwar in schwebeähnliche Zustände geriet, jedoch Einflüssen wie Wasserdichte und Strömung unterworfen blieb, wirkten in der Schwerelosigkeit keinerlei Kräfte mehr auf den Körper ein. Man wog nichts, tendierte in keine Richtung, benötigte keinen Stuhl, der einen davor bewahrte, auf den Hintern zu fallen, nicht den Komfort weicher Polster, kein Bett, um sich darauf auszustrecken. Im Grunde hätte es gereicht, einfach mit angewinkelten Beinen und Unterarmen im bloßen Nichts zu verharren, nur dass schon geringste Bewegungsimpulse, ein Muskelzucken, ausreichten, den Körper abdriften zu lassen, sodass man in ständiger Gefahr war, sich im Schlaf den Schädel zu stoßen. Zudem forderten sechseinhalb Millionen Jahre genetischer Disposition, auf etwas zu liegen, selbst wenn es senkrecht stand oder unter der Decke klebte. Wobei Begriffe wie senkrecht im All keine Rolle spielten, allerdings waren Menschen Bezugssysteme gewöhnt. Untersuchungen hatten gezeigt, dass Raumfahrern eine Erde zu ihren Füßen natürlicher vorkam als eine, die über ihren Köpfen schwebte, weshalb Psychologen auf die sogenannte schwerkraftorientierte Bauweise drängten, um die Illusion eines Fußbodens zu schaffen. Auf dem Bett schnallte man sich halt fest, im Sessel tat man so, als sitze man, und am Ende fühlte man sich beinahe heimisch.
    Sie streckte sich, schlug einen Purzelbaum und beschloss, frühstücken zu gehen respektive zu schweben. Die begradigte Wand, hinter der sie die Lebenserhaltungssysteme vermutete, barg einen Kleiderschrank, aus dem sie eine dunkle Dreiviertelhose und ein passendes T-Shirt wählte, außerdem fest anliegende Slipper. Sie paddelte zum Schott und sagte:
    »Evelyn Chambers. Öffnen.«
    Der Computer überprüfte Druck, Atmosphäre und Dichtigkeit, dann öffnete sich das Modul und gab den Blick frei auf eine mehrere Meter durchmessende Röhre. Viele Kilometer solcher Röhren erstreckten sich über die Station, verbanden die Module untereinander und mit der Zentralstruktur, schufen Verbindungs- und Fluchtwege. Alles war den Prinzipien der Redundanz unterworfen. Immer gab es mindestens zwei Möglichkeiten, ein Modul zu verlassen, jedes Computersystem fand seine Entsprechung in Spiegelsystemen, Lebenserhaltungssysteme waren in mehrfacher Ausfertigung vorhanden. Schon Monate vor der Reise hatte Chambers versucht, sich dem riesigen Bauwerk geistig zu nähern, indem sie es anhand von Modellen und Dokumentationen studierte, nur um jetzt festzustellen, dass die Fantasie vor der Wirklichkeit erblindete. In der Abgeschiedenheit der Parzelle, die sie bewohnte, vermochte sie sich den darüber aufragenden Koloss, seine Ausmaße, seine vielfach verzweigte Komplexität, kaum vorzustellen. Fest stand nur, dass sich die gute alte ISS daneben ausnahm wie Spielzeug aus einer Blisterpackung.
    Sie befand sich an Bord der größten je von Menschenhand geschaffenen Struktur im All.
    Einhergehend mit der Konzeption des Weltraumfahrstuhls hatten ihre Erbauer die OSS in der Senkrechten angelegt. Drei mächtige, je 280 Meter hohe Stahlmasten, gleichschenklig zueinander positioniert, bildeten das Rückgrat, an Basis und Kopfende miteinander verbunden, sodass eine Art Tunnel entstand, durch den die Seile des Aufzugs verliefen. Stockwerkartig umspannten ringförmige Elemente die Masten, Tori genannt, welche die fünf Levels der Anlage definierten. Im unteren Level lag das OSS Grand, das Weltraumhotel. Torus-1 beherbergte gemütliche Aufenthaltsräume, eine Snack- und Kaffeebar, ein Kaminzimmer mit holografischer Feuerstelle, eine Bibliothek und einen etwas desperat anmutenden Kinderhort, den Julian dennoch trotzig auszubauen gedachte: »Weil die Kinder kommen werden, sie werden es lieben!« Tatsächlich war das OSS Grand seit seiner Eröffnung vor zwei Jahren gut gebucht, nur dass die Familien ausblieben. Kaum jemand mochte seinen Nachwuchs dem freien Fall überantworten, was Julian mit polterndem Unverständnis quittierte: »Alles Vorurteile! Die Leute sind so dämlich. Hier oben ist es nicht gefährlicher als auf den blöden Bahamas, im Gegenteil. Hier kann dich nichts beißen, du kannst nicht ertrinken, holst dir nicht die Gelbsucht, die Einheimischen sind freundlich, also was gibt es da zu überlegen? Der Weltraum ist das Paradies für Kinder!«
    Vielleicht lag es daran, dass Menschen zum Paradies von jeher ein gestörtes Verhältnis pflegten.
    Wie ein Raubfisch schlängelte sich Chambers die Röhre entlang. Man war ungemein

Weitere Kostenlose Bücher