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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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weiter verwendet. Allerdings fürchten im Unterschied zu den bolschewistischen Zeiten diejenigen, die sich in der Rolle der Späne sehen, nicht mehr, nach Sibirien verschickt zu werden, und begehren auf. In Moskau sieht man bunt zusammengewürfelte Prozessionen auf- und abmarschieren, die sich aus zum Betteln gezwungenen Rentnern zusammensetzen, aus Militärs, die keinen Sold mehr bekommen, aus Nationalisten, die durch die Liquidierung des Imperiums verrückt geworden sind, Kommunisten, die der Zeit nachtrauern, als alle gleich arm waren, und Leuten, die aus der Bahn geworfen wurden, weil sie die Geschichte nicht mehr verstehen: Wie soll man auch wissen, wo gut und wo böse ist, wer die Helden und wer die Verräter sind, wenn jedes Jahr weiterhin der Tag der Revolution gefeiert wird, während gleichzeitig immer wieder gesagt wird, dass diese Revolution ein Verbrechen und eine Katastrophe war?
    Wenn Eduard in Moskau ist, bleibt er keiner dieser Demonstrationen fern. Oft wird er von Leuten, die seine Artikel in Den lesen, wiedererkannt, und man gratuliert ihm oder küsst und segnet ihn: Mit Männern wie ihm ist Russland nicht verloren. Einmal, auf Einladung seines Kameraden Alksnis, steigt er auf die Tribüne, wo sich die Leader der Opposition ablösen, und ergreift das Megafon. Die vorgeblichen »Demokraten«, sagt er, seien Profitgeier und hätten das von ihren Vätern im Großen Patriotischen Krieg vergossene Blut verraten. In einem Jahr sogenannter »Demokratie« habe das Volk mehr gelitten als während der siebzig Jahre Kommunismus. Aber der Zorn grolle, und man müsse sich auf einen Bürgerkrieg vorbereiten. Diese Rede unterscheidet sich kaum von denen seiner Nachbarn auf der Tribüne, doch bei jedem Satz applaudiert die Menge, eine riesige Menge. Die Worte kommen ihm ganz spontan und drücken das aus, was alle empfinden. Wogen von Zustimmung, Dankbarkeit und Liebe steigen zu ihm auf. Davon hat er geträumt, als er arm und verzweifelt einsam in seinem Zimmer im Hotel Embassy in New York saß, und jetzt geht sein Traum in Erfüllung. Wie im Krieg auf dem Balkan fühlt er sich wohl hier. Ruhig, stark, von den Seinen getragen: am richtigen Fleck.
    »Ich suche eine Bande«, lautet der Titel eines seiner Artikel. Er gründete nicht sofort eine eigene, sondern versuchte zunächst, sich anderen anzuschließen. Ich nehme an, der Name Wladimir Schirinowski klingt dem Leser vage in den Ohren. Man bezeichnete ihn damals – und noch heute, denn es gibt ihn immer noch – als russischen Le Pen, und das ist nicht falsch. Er hat die Redseligkeit von Le Pen, seine Dreistigkeit und seine direkte Sprache. Sicher ist er verrückter, aber er ist ja auch Russe. Ich habe schon ein paar Worte über Alksnis verloren, der eine pittoreske Figur im Hintergrund abgibt. Von den anderen – Sjuganow, Anpilow, Makaschow, Prochanow – habe ich den Eindruck, dass nur ich noch weiß, wer sie sind, weil ich gerade an diesem Buch schreibe und mich wieder in diese Epoche vertiefe. Jetzt, da ich die Aufzeichungen wiederlese, die ich mir zu ihren verschlungenen Werdegängen, ihren simplen Vorstellungen, ihren undurchsichtigen Programmen, vergänglichen Alliancen und heimtückischen Abspaltungen gemacht habe, fühle ich mich ein bisschen in der Rolle eines russischen Historikers, der versucht, seinen Mitbürgern zu erklären, welche Nuancen innerhalb der französischen extremen Rechten Roland Gaucher von Bruno Mégret unterscheiden. Man muss sagen, dass Limonow für seinen Teil vor dieser Art von Pädagogik nie zurückschreckte. Ich habe oft gelacht, wenn ich in Artikeln, die für Leser in der tiefen russischen Provinz bestimmt waren, Ausführungen über Jann-Edern Alliè , Patric Bésson , Alènne dé Bénoua oder über den Kanar annchéné (Jean-Edern Hallier, Patrick Besson, Alain de Benoist, Le Canard enchaîné ) entdeckte. Kurz: Es ist dieser Sumpf an nostalgischen Kommunisten und zornigen Nationalisten, den Limonow in Moskau frequentiert und von dem er sich zu überzeugen sucht, er bündele die starken Kräfte der Nation. Und bei einem von General Prochanow, dem Chefredakteur von Den , organisierten Bankett lernt er Alexander Dugin kennen.
    Eduard ist traurig an diesem Abend. Und jeder andere wäre es sicher ebenso: Er hat gerade erfahren, dass man im Kofferraum eines Autos den zersägten Oberkörper eines seiner Freunde gefunden hat und daneben seinen halb verkohlten Kopf. Diesen Freund, den Major Kostenko, hatte er bei einer Reportage

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