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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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gehabt, mit ihm zu brechen. Jelzin war neben Elena Bonner dem Sarg Sacharows gefolgt. Er war der erste frei gewählte Präsident, den Russland je gekannt hat. Er hatte das Weiße Haus so verteidigt, wie La Fayette die Bastille eingenommen hatte, die Partei, die das Gewissen der Leute erstickte, für gesetzlos erklärt und die Union aufgelöst, die ganze Nationen gefangen hielt. In zwei Jahren war er schlichtweg zu einer sehr großen Persönlichkeit der Geschichte geworden. Würde es ihm gelingen, mit demselben Elan in einem Land, das bislang zur Rückständigkeit und zum Unglück verdammt war, eine Demokratie, eine Marktwirtschaft und eine neue Gesellschaft zu errichten?
    Sich seiner Unwissenheit in ökonomischen Fragen bewusst, zog Jelzin ein junges Genie namens Jegor Gajdar aus dem Hut, eine Art wohlbeleibten, russischen Jacques Attali, der aus der hohen kommunistischen Nomenklatura stammte und einen bedingungslosen Glauben an den Liberalismus predigte. Nicht ein einziger Theoretiker der Schule von Chicago und nicht ein Berater von Ronald Reagan und Margaret Thatcher glaubte mit solcher Inbrunst an die Tugenden des Markts wie Jegor Gajdar. Russland hatte nie etwas gehabt, was von nah oder fern einem Markt geähnelt hätte, und die Herausforderung war gigantisch. Jelzin und Gajdar glaubten, man müsse schnell handeln, sehr schnell, und die Sache auf Biegen und Brechen durchsetzen, um den reaktionären Kräften zuvorzukommen, die bislang alle russischen Reformatoren seit Peter dem Großen in die Knie gezwungen hatten. Die Pille, die man zu schlucken geben musste, wurde »Schocktherapie« getauft, und dieser Schock hatte es in sich.
    Zunächst einmal wurde der Einheitspreis aufgehoben, was eine Inflation von 2600% zur Folge hatte und die parallel gestartete Initiative der »Coupon-Privatisierung« scheitern ließ. Am 1. September 1992 waren an alle russischen Bürger, die älter als ein Jahr waren, per Post Coupons über 10000 Rubel verschickt worden, die dem Anteil eines jeden an der Wirtschaft des Landes entsprachen. Die Idee dahinter war, nach siebzig Jahren, in denen man theoretisch nicht für sich selbst, sondern nur für die Gemeinschaft hatte arbeiten dürfen, bei den Leuten Interesse für die Wirtschaft zu wecken und so Unternehmen und Privateigentum zum Blühen zu bringen, kurz: den Markt. Doch leider waren diese Coupons aufgrund der Inflation schon bei ihrer Ankunft nichts mehr wert. Ihre Nutznießer entdeckten, dass sie sich damit allenfalls eine Flasche Wodka leisten konnten. Sie verkauften sie also massenhaft an kleine Schlitzohren, die ihnen dafür den Preis von, sagen wir, anderthalb Flaschen bezahlten.
    Diese kleinen Schlitzohren, die in wenigen Monaten zu Königen des Erdöls wurden, hießen Boris Beresowski, Wladimir Gussinski und Michail Chodorkowski. Es gab noch mehr, aber um meinen Leser zu schonen, bitte ich ihn, sich nur diese drei Namen zu merken: Beresowski, Gussinski und Chodorkowski. Drei kleine Schweinchen, die wie in Theatertruppen, die knapp bei Kasse sind und in denen es mehr Rollen zu spielen gibt als Schauspieler zur Verfügung stehen, im weiteren Verlauf dieses Buchs all jene verkörpern werden, die man die Oligarchen taufte. Sie waren junge, intelligente Männer voller Energie und nicht per se für den Betrug prädestiniert, aber sie waren in einer Welt aufgewachsen, in der es verboten war, Geschäfte zu machen, während sie doch genau dazu begabt waren; und nun sagte man ihnen von einem Tag auf den anderen: »Ihr könnt loslegen.« Ohne Spielregeln, ohne Gesetze, ohne Bankensystem, ohne Steuerwesen. Wie es der junge Sekundant von Julian Semjonow begeistert formulierte: Es war der Wilde Westen.
    Wenn man alle zwei, drei Monate nach Moskau kam, so wie Eduard es zwischen zwei Balkan-Trips tat, war die Geschwindigkeit, mit der sich die Stadt veränderte, atemberaubend. Man hatte die sowjetische Eintönigkeit für unvergänglich gehalten, und jetzt überlagerten sich in den Straßen, die zuvor die Namen großer Bolschewiken trugen und jetzt wieder wie vor der Revolution hießen, die Leuchtreklamen so dicht wie in Las Vegas. Es gab Staus auf den Straßen und neben alten Ladas schwarze Mercedes mit dunkel getönten Scheiben. Man konnte problemlos all das kaufen, womit sich ausländische Besucher vormals die Koffer vollgestopft hatten, um ihre russischen Freunde zu beglücken: Jeans, CD s, Kosmetikartikel, Klopapier. Kaum hatte man Zeit gefunden, um das Auftauchen eines McDonald’s auf

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