Limonow (German Edition)
dem Puschkin-Platz zu verdauen, eröffnete gleich daneben eine angesagte Diskothek. Früher waren die Restaurants riesig und trist gewesen. Oberkellner mit den Allüren von mürrischen Schalterbeamten hatten fünfzehnseitige Speisekarten gebracht, und welches Gericht auch immer man wählte, es war aus – denn tatsächlich gab es nur ein einziges, und das schmeckte meist widerlich. Jetzt gab es gedämpfte Lichter und hübsche, lächelnde Kellnerinnen, und man bestellte Kobe-Rind oder Austern, die am selben Tag aus Quiberon eingeflogen worden waren. Die Figur des »Neuen Russen« mit seinen Hosentaschen voller Geldscheinen, seinen Harems von Prachtmädels, seiner Brutalität und seiner Rüpelhaftigkeit ging in die zeitgenössische Mythologie ein. Der Witz zur Stunde lautete so: Zwei junge Geschäftsmänner bemerken, dass sie den gleichen Anzug tragen. »Ich habe ihn in der Avenue Montaigne für 5000 Dollar gefunden«, sagt der eine. Darauf der andere triumphierend: »Ach? Ich habe ihn für 10000 bekommen.«
Auf eine Million Gerissene, die sich dank der »Schocktherapie« frenetisch zu bereichern begannen, kamen 150 Millionen Zuspätgekommene, die in die Armut stürzten. Die Preise hörten nicht auf zu steigen, ohne dass die Gehälter nachzogen. Ein Ex-Offizier des KGB wie Limonows Vater konnte sich mit seiner Rente gerade mal ein Kilo Wurst kaufen. Ein Offizier höheren Ranges, der seine Karriere im Geheimdienst in Dresden begonnen hatte, war plötzlich arbeitslos, besaß keine Dienstwohnung mehr und sah sich gezwungen, in seiner Heimatstadt Leningrad schwarz Taxi zu fahren und die »Neuen Russen« ebenso heftig zu verfluchen wie Limonow. Dieser Offizier ist keine statistische Abstraktion. Er heißt Wladimir Putin und ist vierzig Jahre alt, er denkt wie Limonow, dass das Ende des sowjetischen Imperiums die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen ist, und er wird (neben anderen) dazu bestimmt sein, eine nicht unwesentliche Rolle im letzten Teil dieses Buchs zu spielen.
Die durchschnittliche Lebenserwartung eines männlichen Rus sen sank von einem Alter von fünfundsechzig Jahren im Jahr 1987 auf achtundfünfzig im Jahr 1993. Das Schauspiel von trübsinnigen Schlangen vor leeren Geschäften, das so typisch für die Sowjetära war, wurde durch das von alten Männlein ersetzt, die sich in Unterführungen die Füße warm treten und das bisschen, was sie besitzen, zu verkaufen versuchen. Alles, was man verkaufen kann, um zu überleben, wird verkauft. Ist man ein armer Rentner, sind es ein Kilo saure Gurken, eine Teekannenhaube oder ein paar ausgeblichene Ausgaben von Krokodil , der jämmerlichen »Satirezeitschrift« aus Breschnew-Zeiten. Ist man ein General, können es auch Panzer oder Flugzeuge sein – manche machten mit den Flugzeugen der Armee skrupellos private Fluglinien auf und streichen bis heute deren Profite ein. Ist man ein Richter, sind es Urteilssprüche, wenn man Polizist ist, die eigene Toleranz, bei einem Beamten ist es der Stempel und bei einem Afghanistan-Veteranen die Fähigkeit zu töten. Ein Mordauftrag wird für Summen zwischen 10000 und 15000 Dollar ausgehandelt. 1994 wurden in Moskau fünfzig Bankiers erschossen. Von der Bande eines Halsabschneiders wie Semjonow blieb höchstens die Hälfte übrig, und Semjonow selbst lag bereits auf dem Friedhof.
Zu dieser Zeit kam mein Cousin Paul Klebnikov nach Moskau. Seine Großeltern waren wie die meinen 1917 vor der Revolution geflüchtet, aber sie hatten sich in den Vereinigten Staaten niedergelassen, sodass Paul so sehr Amerikaner war wie ich Franzose – nur dass er besser Russisch sprach. Er war genauso alt wie ich, und trotz des Atlantiks, der uns trennte, kannten wir uns seit unserer Kindheit. Ich mochte ihn sehr. Meine Söhne bewunderten ihn. Er war ihr Vorbild, denn er entsprach genau der Vorstellung, die sich kleine Jungen von einem Starreporter machen. Gutaussehend, sportlich, mit offenem Lachen und harter Faust: ein Mel Gibson in Ein Jahr in der Hölle . Er arbeitete für das Forbes -Magazin, und dieses schickte ihn 1994 nach Moskau, um eine Untersuchung zur Wirtschaftskriminalität in Russland zu machen. Bei seiner Ankunft füllte er seinen Kalender mit Terminen, doch die meisten seiner Gesprächspartner waren bereits ermordet, bevor er Zeit hatte, sie zu treffen. Das fesselte ihn so, dass er beschloss zu bleiben. Er wurde ständiger Korrespondent von Forbes in Moskau, und als der große investigative Journalist, der er war,
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