Limonow (German Edition)
verfolgte er seine Untersuchung weiter. Er machte ein Buch daraus, in dem er vom Fall Boris Beresowskis ausgehend bis ins Detail erklärt, wie unter Jelzin die größten russischen Vermögen angehäuft werden konnten. Dann wurde er wie Anna Politkowskaja von einer Maschinengewehrsalve am Eingang seines Wohnhauses zusammengeschossen. Die Untersuchung zu den Umständen seiner Ermordung zeitigte wie im Fall von Politkowskaja bis heute kein Ergebnis.
Die Großen töteten sich gegenseitig für Industriekombinate oder Rohstoffvorkommen, die Kleinen für Kioske oder Marktstände, und auch der kleinste Kiosk und der kleinste Marktstand musste ein »Dach« haben: So nannte man die zahllosen Sicherheits-Dienstleister, die alle mehr oder weniger Schutzgelderpressungs-Unternehmen waren, denn sie knallten jeden ab, der ihre Dienstleistungen nicht in Anspruch nehmen wollte. Die Holdings von Oligarchen wie Gussinski oder Beresowski beschäftigten unter dem Kommando von hochrangigen KGB -Mitarbeitern, die es geschafft hatten, ihre Talente zu privatisieren, ganze Armeen. Für das etwas handwerklichere Niveau rekrutierte man die fürs Geschäftemachen unverzichtbaren Schutzorgane zur einen Hälfte innerhalb der georgischen, tschetschenischen oder aserbaidschanischen Mafias und zur anderen bei der Polizei, die selbst zu einer Mafia neben anderen geworden war.
Zu diesem Thema kenne ich eine gute Geschichte. Ihr Held ist mein Freund Jean-Michel, ein Franzose, der, nachdem seine Frau beim Flugzeugabsturz der TWA von 1995 umgekommen war, sich in Moskau niederließ, um dort ein neues Leben zu beginnen – etwa so, als würde man in der Fremdenlegion anheuern. Er eröffnete dort Restaurants, Bars und Nachtlokale, die im Grunde Bordelle für neureiche Russen und reiche Auswanderer sind. Moralisch mag man davon halten, was man will, aber mit nichts in der Hand und praktisch ohne Russischkenntnisse ein solches Imperium aufzubauen, und das in einer Zeit, in der man sich wegen nichts und wieder nichts mit zementierten Füßen auf dem Grund der Moskwa wiederfinden konnte, das setzt Nerven voraus, um die ihn selbst unser anspruchsvoller Eduard beneiden könnte. Man bräuchte einen Scorsese, um dieses Abenteuer anschaulich zu machen. Doch das ist es nicht, worauf ich hinauswill, ich will nur Folgendes erzählen: Eines Abends stürmten Elitetruppen in Kampfanzügen und mit vermummten Gesichtern einen von Jean-Michels Clubs und versetzten die Mädchen, das Personal und die Gäste, die sie mit ihren Kalaschnikows zwangen, sich auf den Boden zu legen, in Angst und Schrecken. Als die Stimmung so richtig angeheizt war, nahm der Chef seine Strumpfmaske ab, setzte sich, ließ sich etwas zu Trinken servieren und erklärte Jean-Michel ganz ruhig, sein Dach sei unsicher, und er müsse es erneuern lassen. Die Polizei – denn dieses Kommando war die Polizei – würde sich um alles kümmern. Das sei zwar ein bisschen teurer, aber sicherer, und die Übergabe der Aufsicht würde schmerzlos vonstatten gehen. Der Polizeichef würde die Aufgabe übernehmen, den vorherigen Protektoren die Situation zu erklären, und er garantierte, dass es keine Tricks geben würde. Beim Gehen schenkte er Jean-Michel eine CD von der Rockgruppe, die einige seiner Jungs gegründet hatten. Alles lief so ab, wie er es versprochen hatte. Jean-Michel brauchte sich nur über sein neues Dach freuen, und er unterhält seine Freunde gern damit, ihnen die CD vorzuspielen. Er hat Glück gehabt: In vielen Fällen geriet diese Art von Zwischenfällen zu einem Valentinstag-Massaker.
Bevor er starb, und das ist nicht lange her, vertraute der Ex-Premierminister Jegor Gajdar einem Journalisten an: »Sie müssen eines verstehen: Wir hatten nicht die Wahl zwischen einem idealen und einem kriminalisierten Übergang zur Marktwirtschaft, sondern zwischen einem kriminalisierten Übergang und einem Bürgerkrieg.«
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Um die Kollektivierungen, die Hungersnöte, die Säuberungen und die allgemeine Neigung zu rechtfertigen, unter »Volksfeinden« das Volk selbst zu verstehen, sagten die Bolschewiken gern: Man fällt keinen Baum, ohne dass dabei Späne fliegen – die russische Version unseres Sprichworts »Wo man hobelt, da fallen Späne«. Die Diktatur des Proletariats als Horizont für eine strahlende Zukunft wurde durch den Markt ersetzt, doch das Sprichwort wird von den Meistern der »Schocktherapie« und von denjenigen, die der Macht nahe genug stehen, um ihren Anteil am Holz zu haben, wie zuvor
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