Limonow (German Edition)
jener, der spricht, weiß nicht.« Der alte Hippie spricht wenig, aber er weiß, und er steht in harmonischer Verbindung mit etwas Größerem als ihm selbst, mit dem sich Eduard in seiner Gesellschaft auch vereint fühlt. Er ist ruhig, und es geht ihm gut.
Anfang September wird es langsam kalt. Bei Tagesanbruch steigen eisige Nebel aus dem Tal herauf. Man fällt und lagert Holz für den Winter. Denn von Anfang an gab es die Idee, dass drei der Nazboly die Erfahrung machen sollten, an diesem Ort zu überwintern, der vom dem Moment an, da der Schnee die Zufahrt unmöglich macht, von der Welt abgeschnitten sein wird. Das wird hart, aber aufregend, denkt Eduard. Er beneidet sie: Hätte er nicht die Aufsicht über eine Partei in Moskau, würde er gern mit ihnen dableiben. Sie verabreden, dass er im April, wenn das Tauwetter einsetzt, wieder zu ihnen stoßen wird. Man überprüft noch einmal, ob sie in ausreichender Menge über die wenigen unverzichtbaren Dinge verfügen, die man nicht in der Natur findet: Zucker, Kerzen, Nägel … In einem Roman von Jules Verne würde das eine dieser drei Seiten langen Listen ergeben, die mein Held und ich mit klopfendem Herzen lasen, als wir klein waren. Man nimmt sich männlich an die Brust, und Eduard und die beiden anderen nehmen den Weg zurück nach Bar naul, der Hauptstadt des Altai, wo Solotarew wohnt, von dem sie gerührt Abschied nehmen. Eduard gesteht dem Trapper, er habe ihn bei ihrem ersten Treffen verkannt, aber jetzt habe er ihn kennengelernt und sei stolz, sein Freund zu sein. Solotarews Gesicht bleibt unbewegt, seine Schlitzaugen verziehen keine Miene. »Ich habe dich beobachtet«, sagt er zu Eduard. »Du hast eine Seele. Und ich mache keine Politik, aber deine Jungs gefallen mir auch.«
»Wenn du willst«, sagt Eduard, »bringe ich dir eine Mitgliedskarte der Partei mit, wenn ich wiederkomme: Das wäre mir eine Freude.«
6
Den ganzen Winter lang, von Oktober bis April, träumt Eduard vom Altai. Der Winter in Moskau ist in diesem Jahr schrecklich. Die Atmosphäre im Bunker ist seit der Verurteilung des lettischen Kommandos furchtbar gedrückt. Eine Handvoll Moskauer Nazboly , die in Anbetracht dessen, was sie riskieren, echte Kamikazeflieger sind, wollen nach Riga aufbrechen, aber sie werden am Bahnhof verhaftet – wegen Drogenbesitzes, behauptet die Polizei – und landen ebenfalls im Gefängnis. Ihre Eltern glauben, es sei Eduards Schuld, wenn sie auf die schiefe Bahn geraten sind: Sie kommen in den Bunker , beschimpfen ihn und drohen, sie würden ihn vor Gericht bringen. Ein Nazbol der ersten Stunde, einer der acht, die bei der ersten großen Zentralasien-Tour dabei waren, wird in der Umgebung von Moskau totgeschlagen: in einer Prügelei von Besoffenen, ergibt die Untersuchung, was vielleicht stimmt, vielleicht aber auch nicht. Taras Rabko, der Treueste der Treuen und drittes historisches Mitglied der Partei, sucht Eduard eines Tages auf, um ihm unter Tränen zu verkünden, er werde gehen. Er habe so lange wie möglich durchgehalten, aber seine Familie, seine Karriere als Richter … Es ginge nicht mehr. Es ist das typische Verhängnis einer Partei von jungen Leuten: Sobald sie beginnen, etwas aus ihrem Leben zu machen, verlassen sie diese. Lisa, die mit dem Aussehen von Anne Parillaud in Nikita , hat Eduard ebenfalls verlassen, für einen Informatiker ihres Alters, den sie heiraten und mit dem sie Kinder haben will. Er hat sie durch die noch jüngere Nastja ersetzt. Tatsächlich ist sie minderjährig, was ihm einerseits schmeichelt, andererseits aber auch Grund ist für zusätzlichen Verfolgungswahn.
Nastja ist von zu Hause abgehauen, um mit ihm zu leben. Als sie eines Tages spät nach Hause kommen, sehen sie Licht in ihrem Fenster. Als sie die Treppe hinaufstürmen und die Tür aufmachen, ist das Licht aus. Alles scheint in Ordnung, und das ist noch beunruhigender: Eduards Verdacht fällt weniger auf Diebe, die Dinge mitgehen lassen, als auf Besucher, die welche abstellen. Sie durchsuchen ihre Wohnung; sie ist so klein, dass sie fündig werden müssten, wenn jemand Waffen versteckt hätte, doch ein Gramm Heroin ist auch klein. Um sich zu decken, beschließt Eduard, den für ihn zuständigen Offizier beim FSB zu informieren, jenen, der ihm seine Handynummer gegeben hatte. Der Offizier verabredet sich nicht in seinem Büro in der Lubjanka mit ihm, in dem Eduard immerhin schon zweimal gewesen ist, sondern wie bei einer Verschwörung auf dem Bahnsteig einer
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