Limonow (German Edition)
Atemzug herausgefordert hat, aber all diese Vorstellungen, dessen wird er sich nun bewusst, haben nichts mit der Gewissheit zu tun, die ihn jetzt zusammenschnürt: Er wird sterben.
Er denkt an sein Leben, an den Weg, den er von seiner Kindheit in Saltow bis zu dieser Hütte im Altai zurückgelegt hat, wo er an diesem Abend als fast Sechzigjähriger liegt. Ein langer Weg voller Tücken, aber er hat nicht aufgegeben. Er wollte als Held leben, und er hat als Held gelebt und nie über den Preis geklagt, den man dafür zahlt.
Er denkt an etwas, das ihm der Trapper im letzten Herbst gesagt hat: Der buddhistischen Tradition zufolge ist hier das Zentrum der Welt, der Ort, wo die Welt der Toten mit jener der Lebenden verbunden ist. Es ist der Ort, den der Baron Ungern von Sternberg suchte, und er ist da.
Durch das Fenster sieht er über dunklen Hügeln den Mond scheinen. Es herrscht Vollmond. Und er beginnt, zunächst sehr weit weg, dann immer näher Musik zu hören. Gongs, Schneckenhörner, Grabesgesänge. Man könnte sie für den Soundtrack zum Bardo Thödröl , dem Tibetischen Totenbuch halten, das Dugin ihm früher einmal zur Kenntnis gebracht hat. Dieser Dreckskerl Dugin, denkt er nachsichtig. Er würde sich trotz allem freuen, ihn im Kriegerhimmel wiederzutreffen – falls man diesen Hasenfuß dort aufnimmt …
Er fragt sich, ob er dabei ist, in den Schlaf oder in den Tod hinüberzugleiten. Er glaubt, dass draußen ganz in der Nähe eine Zeremonie abgehalten wird, vielleicht eine schamanische Initiation. Zu anderen Zeiten würde ihn nichts mehr interessieren als dieser beizuwohnen, aber jetzt – ein bisschen aus Diskretion seinen Gastgebern gegenüber, aber vor allem, weil er keine Lust hat, sich zu rühren – bleibt er in diese jenseitige Musik eingerollt liegen, die mit den Geräuschen seines Köpers zusammenfließt: dem Blut, das an seine Schläfen klopft, in seinem Herz pulst und in seinen Adern kreist. Er schläft nicht, und er bewegt sich nicht. Es ist, als sei er tot oder als habe er eine andere Daseinsform angenommen.
Am nächsten Morgen fragt er die Nazboly , ob sie zu der Zeremonie gegangen seien. Welche Zeremonie? Es hat nichts dergleichen gegeben, weder ein Fest noch ein Konzert noch ein schamanisches Ritual, nichts, alle sind nach dem Abendessen schlafen gegangen. Wenn man nightlife suche, müsse man woandershin fahren als ins Altaigebirge, scherzen sie.
Eduard bohrt nicht weiter nach. Während der übrigen Reise ist er weiter viel in Gedanken, aber er ist nicht mehr so niedergeschlagen wie am Vorabend. Er glaubt, diese Himmelsmusik und diese Jenseits-Erfahrung seien ein Geschenk des Trappers gewesen und kündigten ihm etwas an. Vielleicht seine Besteigung des Throns von Eurasien, den er mit seiner Handvoll Nazboly von ihrer Einsiedelei in den Bergen aus erobern und damit das erfolgreich durchziehen wird, woran der Baron Ungern von Sternberg scheiterte. Vielleicht auch seinen unmittelbar bevorstehenden Einzug in die Walhalla, das heißt den Tod, aber er hat keine Angst vor dem Tod, er wird nie wieder Angst vor ihm haben. Er ist schon auf der anderen Seite gewesen.
Die drei Nazboly , die sie oben treffen, freuen sich über ihre Ankunft. Sie sehen gut aus: gebräunt, asketisch, wie echte Soldatenmönche. Ihre Haltung und ihre Stimme lassen spüren, dass sie gereift sind. Der Abend, über dem Solotarews Schatten schwebt, ist gleichzeitig ernst und fröhlich und wunderbar entspannt. Die jungen Männer erzählen von ihrer Überwinterung, von den Momenten der Trübsal und denen der Begeisterung und dem Tag, als einer von ihnen einem Bären begegnete. Auf langen Holzspießen haben sie Schaschliks gebraten, Lammspieße, die man im Kaukasus und in Zentralasien auf den Tisch bringt. Sie trinken den aus Barnaul im Kofferraum mitgebrachten Wein, aber sie betrinken sich nicht. Alles geschieht mit Aufmerksamkeit und in Freundschaft. Man fühlt sich wohl zu siebt unter der Petroleumlampe. Der so wenig sentimentale Eduard hätte Lust, diesen Jungen, die seine Söhne sein könnten, zu verkünden, sie seien die edelsten und mutigsten Wesen auf dieser Welt. Er fühlt sich ihnen sehr nah und zugleich sehr weit entfernt. Noch nie war er so zärtlich gestimmt. Im Rückblick meint er, das letzte Abendmahl müsse dem sehr ähnlich gewesen sein.
Im Morgengrauen wird er von Gebell geweckt. Sie haben keinen Hund, aber es bleibt ihm keine Zeit, sich darüber zu wundern. Alles geht sehr schnell: Männer von Spezialtruppen
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