Limonow (German Edition)
Reiseführer, ein schweigsamer und ausdrucksloser Typ namens Solotarew hat in den Bergen im Süden etwas aufgetan, was dem zu entsprechen scheint, was sie suchen: eine Art Einsiedelei, die aufgrund ihrer Lage in einer schwer zugänglichen Gegend ohne Nachbarn als Trainingslager dienen könnte. Das Trainingslager ist ein Mythos in der Partei. Viele Nazboly glauben felsenfest, dass Eduard schon mehrere höchst geheime nach dem Modell jener der pakistanischen Djihadisten gegründet habe, und er widerspricht dieser Vermutung nicht, doch sie ist nicht wahr: Bislang gibt es nicht ein einziges.
Am Ende einer Piste, zehn Kilometer vom nächsten Weiler entfernt – und man braucht fast eine Stunde, um diese zehn Kilometer zurückzulegen – erblicken die Reisenden eine Holzhütte mit einem zur Hälfte eingestürzten Dach und plastikverhangenen Fenstern. Zwei Räume, vier Betten, ein Ofen, der zu funktionieren scheint. Sie packen ihre Ausrüstung, die Schlafsäcke und Essensvorräte aus und richten sich ein. Am Abend picknickt man unter Sternen. Das Wunder beginnt.
Pantheistische Lyrik ist nicht meine Stärke: Obwohl ich ein Liebhaber alpiner Landschaften bin, fühle ich mich nicht besonders wohl, wenn ich Lagerfeuer, Gebirgsbäche und die tausend verschiedenen Arten von Gras, Pilzen und Wildtierspuren beschreiben soll, ich überspringe also die Robinsonade. Für Eduard dauert sie drei Wochen lang, und seine Jungs widmen sich währenddessen eher Schieß- und Nahkampf-Übungen als dem Jagen und Sammeln. Niemand stört sie dabei. Eduard entdeckt als Kind des Betons eine für ihn neue Welt, und der Führer Solotarew entpuppt sich hier in seinem Element als eine faszinierende Persönlichkeit. In der Stadt hatte er auf Eduard den Eindruck eines alten Provinz-Hippies mit dreckigen Haaren und Bandana-Tuch gemacht, der sein Schweigen nur brach, um irgendwelchen New Age -Unsinn zu erzählen, bei dem regelmäßig Worte wie »Energie« und »Karma« wiederkehrten. Als Eduard am ersten Morgen aus der Hütte trat, fand er ihn der aufgehenden Sonne zugewendet im Lotussitz meditierend, was er zunächst mit einem Lächeln quittierte, aber nach nicht einmal drei Tagen spürt er selbst die ruhigen, positiven Wellen, die von diesem Mann ausgehen. Solotarew nimmt ihn mit, um in den Gebirgsbächen zu fischen, er bringt ihm bei, den Fischen die Kiemen zu entnehmen, sie zu kochen und die richtigen Kräuter und Beeren als Beilage auszuwählen. Er kennt die Natur wie niemand sonst, nein, er kennt sie nicht nur: Er ist Teil von ihr und in ihr an seinem angestammten Platz. Eduard ist beinahe eingeschüchtert. Angesichts dieses Mannes fühlt er sich wie ein übertrieben zivilisierter Reisender neben dem mongolischen Trapper Dersu Uzala aus dem Film von Kurosawa, den er früher einmal gesehen und gemocht hat. Solotarew hat die kleine Statur des Trappers und dieselben Schlitzaugen, und er ist ebenso wortkarg. Seine Kraft und Schalkhaftigkeit sind nicht auf den ersten Blick zu erkennen, aber wenn man sie einmal wahrgenommen hat, sieht man nichts anderes mehr und begreift, dass man sich beinahe um die Begegnung mit einem außergewöhnlichen Menschen gebracht hätte. Auf seine Weise ist er ein Meister.
Neben der Hütte gibt es eine Banja , eine dieser rudimentären Saunen, die in Russland überall auf dem Land als Bad dienen. Zwischen vier Wänden aus Rundstämmen, deren Ritzen mit Moos ausgestopft sind, schwitzt man im Dampf, der einer Feuerstelle aus Glut und heißen Steinen entströmt und in die man von Zeit zu Zeit ein Kelle kaltes Wasser gießt. Eduard mag Banjas sonst nicht besonders. Er hält es zwar lange darin aus, denn er hat ein stabiles Herz und kein Problem damit, bei Schnee hinauszugehen und sich nackt zwischen zwei Schwitzgängen darin zu wälzen, aber das Herumsitzen ohne Beschäftigung langweilt ihn schnell und verschafft ihm den Eindruck, seine Zeit zu ver geuden. Für Solotarew dagegen ist die Banja ein fast religiöses Ri tual, und er vollbringt die Heldentat, den ungeduldigen Eduard dazu zu bekehren. Abends, nach ihren langen Märschen in den Bergen, verbringen sie trunken vor Müdigkeit und Wind ein oder zwei Stunden damit, in der Dampfwolke Wodka zu trinken, ihre Muskeln zu entspannen und in Frieden und Vertrauen zu schweigen, und wenn Solotarew ab und an einen sibyllinischen Satz von Laotse, seinem Lieblingsautor, orakelt, findet Eduard es ganz und gar nicht mehr lächerlich, sondern richtig. »Jener, der weiß, spricht nicht;
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