Limonow (German Edition)
Metrostation. Wie ich schon sagte, Eduard findet ihn nicht verabscheuenswert und spricht ganz offen mit ihm: über den nächtlichen Besuch in seiner Wohnung, über die anonymen Anrufe, die er erhält, und seinen Eindruck, eine Schlinge ziehe sich um ihn zusammen. Der Offizier nickt. Er sieht besorgt aus, als wisse er Bescheid und als hinge es gleichzeitig nicht von ihm ab, sondern von einer anderen Abteilung, mit der er im Clinch liegt. »Mal ehrlich«, wagt sich Eduard vor, »was halten Sie persönlich von dieser Riga-Geschichte? Finden Sie es normal, dass Russland seine Nationalisten fallenlässt?« Der Offizier seufzt: »Ich bin da ganz Ihrer Meinung, aber weder Sie noch ich haben darüber zu entscheiden. Das ist eine Sache des Staats.«
»Die Wahrheit ist«, fährt Eduard fort, »dass wir die Arbeit machen, die eigentlich Sie machen müssten. Statt uns zu verfolgen, sollten Sie sich unser bedienen. Uns das tun lassen, was Sie nicht das Recht haben zu tun.«
Er ist ehrlich, wenn er das sagt: Er hat nichts gegen die Organe, ganz im Gegenteil. Er könnte sich für sich und seine Partei durchaus vorstellen, Hand in Hand mit ihnen zu arbeiten, wie Bob Denard und seine Schwadron von Söldnern mit den offiziellen Vertretern der Françafrique . Aber der Offizier weicht aus, schaut auf seine Uhr und verabschiedet sich.
7
Eduard hofft, im Altai aufatmen zu können. Doch er atmet nicht auf. Während der ganzen Reise – drei Tage mit dem Zug von Moskau nach Nowosibirsk und einen Tag von Nowosibirsk nach Barnaul, wie immer in der dritten Klasse – fühlte er sich beobachtet und überwacht. Nicht paranoisch werden, sagt er sich immer wieder wie ein Mantra auf. Aber auch nicht vergessen, dass man oft zu Recht paranoisch ist. Schwierig, in diesem Bereich dem »Mittelweg« zu folgen, den Laotse predigt, der unter dem Einfluss des Trappers Solotarew zu seinem Lieblingsautor avanciert ist. Wenn ich dort bin, wird es mir besser gehen, denkt er. Eduard freut sich darauf, in Barnaul den Trapper wiederzutreffen und den weiteren Weg gemeinsam mit ihm zurückzulegen. Er hat im Laufe dieses entsetzlichen Winters oft an ihn gedacht, und es war ein beruhigender Gedanke, so wie die Lektüre von Laotse: eine ruhige, stille Erschütterung, das Versprechen einer möglichen Besinnung inmitten der Wogen, des Lärms und der Raserei dieser Welt.
Als er bei Solotarew ankommt, erfährt er, man habe ihn am Vorabend beerdigt. Eine Frau, die ihren Hund ausführte, fand ihn am frühen Morgen tot am Fuß seines Wohnblocks. Ein Fenster seiner Wohnung im vierten Stock stand offen. Selbstmord? Ein Unfall? Mord? Die Nazboly , mit denen er seinen letzten Abend verbracht hat, beteuern, er sei nicht deprimiert gewesen und habe sie auch nicht betrunken verlassen.
In seiner Tasche zerknüllt Eduard nervös die Mitgliedskarte der Nationalbolschewistischen Partei, die er dem Trapper als Geschenk mitgebracht hat. Er taumelt.
In der nächsten Nacht passiert etwas Seltsames. Wie vorgesehen hat er sich mit zwei Nazboly auf den Weg gemacht; sie sind schweigsam wie er und niedergeschmettert von dem, was gerade geschehen ist. In seine finsteren Gedanken versunken nimmt er nichts von dem wahr, was ihn bei seiner letzten Reise so be törte: weder den unendlich weiten Himmel noch die Landschaften, die unter diesem endlosen Himmel auf ihren elementarsten Ausdruck reduziert sind, weder die Karawanserei, wo man zum Tee Halt macht, noch die asketischen und edlen Gesichter der Bergbewohner, die ihnen ihre Gastfreundschaft anbieten. Für die Nacht machen sie am selben Ort Halt wie beim letzten Mal. Ihn ein Dorf zu nennen wäre zuviel gesagt, es gibt ein paar Jurten und eine Holzhütte, in der er sich sofort nach ihrer Ankunft ohne Abendessen wortlos schlafen legt. Glücklicherweise haben die Nazboly ihr Zelt dabei. Er ist allein.
Auf seinem Feldbett ausgestreckt denkt er an die Toten. An die Menschen, die er in seinem Leben gekannt hat und die inzwischen gestorben sind. Es sind schon ziemlich viele. Er glaubt, wenn er zählen würde, gäbe es mehr Tote als Lebende, aber er wagt nicht nachzuzählen. Er hat auch keine Lust zu schlafen, er will einfach nur daliegen und sich nicht mehr rühren. Er denkt daran, dass auch er sterben wird, und seltsamerweise ist es, als habe er bis zu diesem Abend noch nie daran gedacht. Er hat oft von der Art des Todes geträumt, die ihm gefiele: im Kampf oder erschossen, hingerichtet auf Befehl eines Tyrannen, den er bis zu seinem letzten
Weitere Kostenlose Bücher