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Limonow (German Edition)

Limonow (German Edition)

Titel: Limonow (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emmanuel Carrère
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und die wenigen Gegenstände, Uhr, Schlüssel, Portemonnaie, die man zur Aufbewahrung abgibt; die Uniform mit dem Aussehen eines Pyjamas, die einem dafür ausgehändigt wird; die medizinische Untersuchung mit rektaler Kontrolle; die zwei Wächter, die einen durch ein endloses Labyrinth von Gängen führen; die Abfolge von Gittern und Toren; schließlich die schwere Metalltür, die sich öffnet und hinter einem schließt – und dann ist man da: In diesen acht Quadratmetern wird man mehrere Monate oder Jahre leben und wie im Krieg zeigen, was man wirklich wert ist.
    Man hat ihn nicht als kleinen Fisch gehandelt: Er befindet sich in Lefortowo, wohin die gefährlichsten Staatsfeinde gesteckt werden. Alle großen politischen Häftlinge der Sowjetunion und später Russlands, alle Terroristen schweren Kalibers sind hier durchgekommen, und es ist nicht schwer, sich an diesem Ort für den Mann mit der eisernen Maske zu halten. Noch heute taucht dieses Bollwerk des KGB in der Umgebung von Moskau auf keiner Landkarte auf, und sein Geheimnis ist so vollkommen, dass Eduard anfangs nicht einmal weiß, wessen er und seine Kameraden eigentlich angeklagt sind. Er hat keinen Anwalt zu Gesicht bekommen und hat kein Recht auf Besuche. Er weiß auch nicht, wann das Ermittlungsverfahren aufgenommen wird, was man draußen zu seiner Verhaftung sagt, ob man überhaupt etwas darüber sagt und nicht einmal, ob die ihm Nahestehenden Bescheid wissen.
    Im Unterschied zu den meisten anderen Strafanstalten in Russland ist Lefortowo nicht schmutzig oder überfüllt, und keiner wird hier vergewaltigt oder zusammengeschlagen, dafür ist man einer strikten Isolation ausgeliefert. Nicht nur wird man nicht zum Arbeiten gezwungen, sondern selbst wenn man arbeiten wollte, ist es nicht gestattet. Die weißen, aseptischen Einzelzellen sind mit einem Fernseher ausgestattet, und den Gefangenen steht es frei, von morgens bis abends Fernsehen zu schauen – und diese wattierte Sucht stürzt sie früher oder später in die Apathie und schließlich in die Depression. Der tägliche Hofgang findet im Morgengrauen auf dem Dach des Gefängnisses statt, aber jedem ist ein Bereich von wenigen Quadratmetern zugewiesen, der vollständig vergittert ist, und damit von einem dieser Bereiche zum anderen keine Worte gewechselt werden können, verbreiten Lautsprecher eine so ohrenbetäubende Musik, dass man sich die Seele aus dem Leib schreien könnte und die eigene Stimme nicht einmal selbst vernehmen würde. Auch dieser undankbare Ausgang ist nicht obligatorisch, und Viele ersparen ihn sich schließ lich: Sie bleiben im Bett, drehen sich zur Wand und atmen nie die Luft von draußen. Im Winter, wenn es noch dunkel und entsetzlich kalt ist, geht überhaupt niemand mehr hinaus, und die Wächter, die sich daran gewöhnt haben, nach der Betätigung des Wecksi gnals in Ruhe zum Teetrinken in ihr Stübchen zurückzukehren, sind mehr als erstaunt, als der Häftling Limonow auf diesem Ausgang besteht, auf den er der Hausordnung nach ein Anrecht hat. »Aber es sind minus fünfundzwanzig Grad«, wirft man ein. Egal. Während seines gesamten Aufenthalts in Lefortowo lässt Eduard nicht einen Tag aus, an dem er nicht aufs Dach geht und eine halbe Stunde lang wie ein Wilder auf seiner Betonscholle joggt, Liegestütze und Sit-ups macht und die eisige Luft boxt. Es ärgert die Wächter ein wenig, für diesen einzigen Interessenten ihre gut geheizte Kombüse verlassen zu müssen, aber es beeindruckt sie auch. Außerdem ist er höflich, von immer gleichbleibender Laune, und man merkt, dass er ein belesener Mann ist: Bald schon nennen sie ihn den »Professor«.
    Wenn es etwas auf der Welt gibt, das Eduard hasst, dann ist es das Zeitverlieren. Nun ist das Gefängnis allerdings das Königreich der verlorenen Zeit – der Zeit, die ohne Form oder Richtung dahingeht – und insbesondere ein Gefängnis wie Lefortowo, wo die Häftlinge sich selbst und ihren eigenen Ressourcen überlassen bleiben. Während die anderen lange ausschlafen, steht er um fünf Uhr auf, und bis zum Schlafengehen wird er aus jedem Augenblick das Maximum zu ziehen versuchen. Er stellt sich eine Regel auf: Im Fernsehen schaut er nichts anderes als Nachrichten an, nie einen Film oder eine Variétésendung, die er für den Anfang der Erschlaffung hält; und in der Bibliothek lässt er die leichten Romane stehen, die einem, wie man sagt, »die Zeit vertreiben« und leiht sich stattdessen der Reihe nach sämtliche der

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